Im Saal des neuen Seniorentreffs der Neckarstädter Diakonie war die Hölle los. Dutzende älterer Damen standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich laut und ausdauernd über ihre Krankheiten, ihre Ärzte, ihre Kinder und ihre Enkelkinder. Und, mit besonderer Hingabe, über Karl-Theodor Schlemen.
Schlemen war nicht nur in seiner Rolle als Oberbürgermeister anwesend, sondern auch und vor allem als großzügiger Förderer des Seniorenzentrums. Nicht nur hatte er den Bauantrag im Stadtrat in
Rekordzeit durchgebracht, nein, er hatte auch durch einige Spenden aus seinem privaten Geldbeutel die gediegene Einrichtung mitfinanziert.
Schlemen wusste, wie wichtig Menschen über 50, und besonders Frauen über 50, als seine Stammwähler waren, und er hegte und pflegte sie, wo er konnte. Sein weltmännisches Auftreten sicherte ihm
zusätzlich die Sympathie der Neckarstädter Damenkränzchen, und einige Frauen kannten kaum ein anderes Gesprächsthema als Schlemen und seine politischen Heldentaten. Besonders Gertrude Oettinger,
die Vorsitzende des Neckarstädter Seniorenvereins, war ihm sehr gewogen.
Zur Feier des Tages hatte Schlemen seine Bürgermeisterkette angelegt, so dass nun auf seiner Brust stolz eine goldene Medaille mit dem Stadtwappen Neckarstadts prangte. Auf seiner Tour von einer der plaudernden Gruppen zur anderen, die ihn jeweils enthusiastisch mit großem Hallo empfingen, begleitete ihn als Hoffotografin die Praktikantin des Neckarstädter Heimatboten. Gereon Flüssler, als Chefredakteur der Alleinherrscher über den Heimatboten, hoffte auf wahlkampftaugliche Bilder Schlemens und hatte ihr strikt eingeschärft, immer ohne Blitz zu fotografieren, damit es ja keine roten Augen gäbe.
Leider war Nikola Menning technisch bei weitem nicht so begabt wie journalistisch und hatte es nicht geschafft, den automatischen Blitz abzustellen, so dass Schlemen nun in schöner Regelmäßigkeit
heftig geblendet wurde. Sein Unmut über diese Blendungen wurde beträchtlich gedämpft dadurch, dass Nikola bei aller technischer Unfähigkeit ein außergewöhnlich hübsches Mädchen und, so schien es
ihm, durchaus empfänglich war für die Erotik der Macht. Nikola Mennings Hang zum Journalismus hatte sich schon in der Schule gezeigt, wo sie zusammen mit ihrer Freundin Julia Wagmann, die nun in
Stanford Kunstgeschichte studierte, treibende Kraft der Schülerzeitung gewesen war. Peer Wagmann hatte ihr geraten, bei einer kleinen Zeitung erste Erfahrungen zu sammeln. Das sei bei jeder
Bewerbung für Studienplatz oder Volontariat ein großer Vorteil und außerdem der beste Weg, das zu lernen, was in den Journalismus-Lehrbüchern nicht vorkomme.
Zu den nicht lehrbuchgemäßen Widrigkeiten gehörte es, stellte sie gerade fest, während sie ein weiteres Mal auf Schlemen anlegte und abdrückte, von alkoholisierten Politikern, die sich für
unwiderstehlich hielten, auf Schritt und Tritt mit den Augen ausgezogen zu werden. Insofern funktionierte die Taktik der Neckarstädter Seniorinnen, die Schlemens begehrliche Blicke auf Nikola
durchaus bemerkt hatten, prächtig: In der Erkenntnis, dass sie weder so jung noch so hübsch wie Nikola waren, und der Hoffnung, Schlemen durch Alkohol für ihre verblühten Reize empfänglicher zu
machen, hatten sie dem Oberbürgermeister mittlerweile fast eine ganze Flasche des berühmten Neckarstädter Pfirsichlikörs aus dem Haus des renitenten Obstbauern Herbert Schäufele eingeflößt.
Schlemen, der einiges an Alkohol gewöhnt war und alles trank, von wem auch immer hergestellt, war zwar nicht richtig betrunken, aber doch heftig angeheitert. Trotzdem – hier versagte nun der Plan
der Neckarstädterinnen - waren seine erotischen Energien weiterhin ungeteilt auf Nikola gerichtet. Zusammen mit dem Likör machten sich nun seine Sorgen im Magen bemerkbar. Verdammt. Immer
dann, wenn es am schönsten ist, dachte er. Er freute sich schon darauf, endlich die verrückten alten Damen zu verlassen.
Sein i-Phone klingelte. Ein Blick auf das Display verriet ihm, dass Kiel ihn sprechen wollte. „Oberbürgermeister Schlemen“ begrüßte er den Anrufer. „ Ja ja, ich bin es. Wo steckst Du?“, raunte es
aus dem Hörer. Hitze, Likör, Blitzlichter und der Anruf trieben den Schweiß auf Schlemens Stirn. Er nestelte in seiner Jackettasche nach einem Taschentuch. Er antwortete: “Ich bin auf einer
wichtigen Veranstaltung. Ich kann jetzt nicht sprechen.“- „Ich hab gefragt, wo Du bist?“, fragte Kiel aggressiv zurück.
Schlemen fuhr sich mit dem Taschentuch über die nasse Stirn. Sein Blick streifte nervös durch den Raum, dieses Gespräch konnte er wohl nicht aufschieben. „Ich bin bei der Einweihung des neuen
Seniorentreffs. Bei der Diakonie“, antwortete er resigniert. „Wir müssen reden. Komm sofort zum Bauhof. Mit dem Auto bist du ja in zehn Minuten da“, befahl ihm Kiel. Sein Blick traf auf die
Praktikantin, das hübsche Ding. Schade, das hätte ein interessanter Kontakt werden können. Flüssler hatte schon immer einen ähnlichen Sinn für Ästhetik wie er selbst gehabt. Einen Versuch
startete er noch: „Ich hab schon einen zu viel getrunken, reicht es nicht auch morgen?“ – „Nein, jetzt! Ich schicke jemanden der dich abholt.“ sagte Kiel und legte auf.
Verdammt, irgendwas stimmt nicht. Und es ärgerte Schlemen noch mehr, dass Kiel so mit ihm sprach. „Was glaubt denn dieser rechte Sack, wer er eigentlich ist. Ich bin hier immer noch der
Oberbürgermeister“, dachte er sich und machte sich auf seine Abschiedsrunde. Da er wusste, dass Kiel, wenn er so drauf war, keine Zeit verlor, ging er schnurstracks auf Gertrude Oettinger zu und
verabschiedete sich mit bedauernden Worten. Nikola Menning stand gerade bei ihr und fing noch ein paar Stimmen und Eindrücke ein. Und sie knipste wie eine Verrückte mit ihrem Blitzlicht im Raum
herum. „Ach, Herr Bürgermeister, sie müssen schon gehen? Wie schade“, sagte Frau Oettinger. „Leider, liebe Frau Oettinger. Aber sie wissen ja, morgen ist die wichtige Gemeinderatssitzung wegen
der neuen Parkbänke. Für ihren Antrag muss ich doch fit sein“, sagte er leicht lallend. Er blickte in Richtung des Ausgangs, um zu sehen, wer ihn denn abholen würde. Ein schwarzer BMW fuhr vor.
„Noch ein paar Fotos, Herr Oberbürgermeister! Bitte!“, schrillte es in seinem Ohr. Nikola hielt mit ihrer Kamera voll drauf und begleitete Schlemen Abgang mit einem Blitzlichtgewitter. Als er die
Tür öffnete, blies ihm eine angenehm kühle Brise ins Gesicht. Die frische Luft tat nach dem Likör und Alte-Frauen-Parfüm richtig gut. Vor ihm parkte gerade der BMW. Zwei dunkle Gestalten, der
eine lang und dünn, der andere groß und kräftig, traten ins Licht und begrüßten Schlemen: „Buonasera Signore Bürgermeister! Eine, wie sagt man auf Deutsch? Eine große Ehre, Sie kennen zu lernen“,
flötete der Dünne im Nadelstreifenanzug, „ mein Name ist Vito Panarello. Signore Kiel schickte uns, sie abzuholen. Das ist meine Freund und Kollega Salvatore Rizzo. Aber Sie könne ihn nennen
Toto!“. Der stiernackige Kompagnon nickte und grunzte „Piacere!“ oder so etwas ähnliches.
Die beiden wirkten wie aus einem schlechten Film, aber auf jeden Fall unheimlich. Schlemen bekam es mit der Angst zu tun. „Ich kann doch nicht mit. Ich, ich, äh, dringende Amtsgeschäfte. Sie
verstehen. Grazie und auf Wiedersehen!“, stammelte Schlemen und wollte wieder zurück, hinein in den Saal. Der dicke Toto stand schon hinter ihm und packte ihn überraschend geschickt in den
Polizeigriff. „Scusi. Aber wir müssen zu die Herr Kiel. Und zwar Presto. Machen Sie bitte keine Szene“, flötete Vito. Schlemen wollte sich aus der Umklammerung winden, aber Totos Griff lockerte
sich kein Stück. Toto machte wieder dieses seltsame Grunzgeräusch und schob Schlemen in Richtung der Hintertür des Wagens. Vito öffnete die Wagentür, aber Schlemen kämpfte zunehmend gegen die
unfreundliche Einladung an. Toto wurde jetzt rabiat und setzte seine ganze Masse ein, um Schlemen in den Fond des Autos zu drücken.
Nur mit Mühe schafften es Vito und Toto, Schlemen auf dem Sitz zu fixieren. Toto drückte ihn hinein, während Vito von der anderen Seite zog. Dabei stieß Vito sich den Kopf-„Porco Juda!“ fluchte
er auf sizilianisch. Toto ging mit soviel Nachdruck an die Sache ran, dass er sich mit seinem massigen Leib im Türrahmen verfing. Schlemen konnte das Ploppen quasi spüren, als Toto seinen Körper
in die Freiheit wuchtete. Er schmiss die Tür zu und Vito schloss mit einem Zwinkern in den Augen den Gurt, „iste eine Spezialanfertigung. Brauchen Sie gar nicht versuchen!“ Beim Aussteigen stieß
Vito sich genau an der gleichen Stelle wie zuvor nochmals den Kopf.
Mit einem dumpfen Knall schloss sich die Tür des BMW hinter Schlemen und Toto. Dieser roch, als sei er mit seiner speckigen Lederjacke direkt auf der Baustelle geboren worden: Nach Schweiß,
Rauch, Staub und nach dem durchdringenden Aroma von Beton. Seine Jacke stand außerdem in unvorteilhaftem Kontrast zu der edlen Wildlederausstattung der Limousine. Was für ein unattraktiver
Zeitgenosse! Dem Oberbürgermeister blieb heute auch wirklich nichts erspart. Für 22:00 Uhr hatte er einen Tisch im „Corleone“ bestellt – den Senioren-Likör-getränkten Nachmittag hatte er nur
durch die stete Visualisierung der dortigen Spezialität, Branzino in Salzkruste, durchgestanden. Und noch nie hatte Kiel seine Abendpläne durchkreuzt, bisher.
Die Kapitel 11 bis 13 wurden von Nicolas Baumgärtner, Petra Brumshagen, Sofia Delgado, Ralf di Grazia, Laura Konrad, Nina Maria Klofac, Oliver Lobschat, Martin Posset und Agnieszka Schneider
geschrieben.