Kürzlich diskutierten wir im Deutschlandradio über das „Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk“.[i] Und dabei kamen rasch die Begriffe der „inneren Pressefreiheit“ und der „inneren Rundfunkfreiheit“ auf den Tisch. Im Manifest wird „eine Eingrenzung des Debattenraums anstelle einer Erweiterung der Perspektive“ festgestellt. Weiterhin: „Wir vermissen den Fokus auf unsere Kernaufgabe: Bürgern multiperspektivische Informationen anzubieten“ (Manifest, 2024, 1).
Auf der darauf folgenden Seite halten die Manifest-Autoren dann fest: „Innere Pressefreiheit existiert derzeit nicht in den Redaktionen.“[ii] Dieser Satz hat erhebliche Kritik am Manifest ausgelöst. Weiterhin wird dann erläutert: „Die Redakteure in den öffentlich-rechtlichen Medien sind zwar formal unabhängig, meist gibt es auch Redaktionsausschüsse, die über die journalistische Unabhängigkeit wachen sollten. In der Praxis aber orientieren sich die öffentlich-rechtlichen Medien am Meinungsspektrum der politisch-parlamentarischen Mehrheit. Anderslautende Stimmen aus der Zivilgesellschaft schaffen es nur selten in den Debattenraum.“
Welche Art von „innerer Pressefreiheit“ ist nun hier gemeint. Als Erstunterzeichner habe ich den Prozess der Formulierung dieser Zeilen nicht mitbekommen. Ich habe natürlich mit einigen Autoren des Manifestes über diese Aussage und über den gesamten Absatz diskutiert.
Was heißt „innere Rundfunkfreiheit“ ?
Ich fasse das Ergebnis dieser Diskussionen so zusammen: „Innere Pressefreiheit“ ist hier gleichzusetzen mit dem Schwesterbegriff der „inneren Rundfunkfreiheit“. Die „innere Rundfunkfreiheit“ wiederum ist Teil der allgemeinen Rundfunkfreiheit, wird von dieser also umfasst und begründet.
Deshalb müssen wir uns fragen: Besteht innere Rundfunkfreiheit in den Funkhäusern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder besteht sie nicht?
„Ich kann doch in der Redaktionskonferenz sagen, was ich will“, gab eine Kollegin in der kürzlich geführten Diskussion zu bedenken. Also bestehe auch innere Presse- und Rundfunkfreiheit.[iii] Dass in den Redaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks diskutiert wird, wird zum Beispiel auch von Michael Schmidt, Erstunterzeichner des Manifestes und NDR-Rundfunkrat, im Interview mit Jörg Wagner nicht bezweifelt. (Wagner 2024, ab Minute 10).
„Aber dieser Widerstreit der Meinungen innerhalb von Redaktion findet sich meiner Auffassung nach zu wenig auf den Bildschirmen und in den Hörfunkprogrammen und in den Onlinetexten wieder“, erläutert Schmidt. Und deshalb betont er: „Dieser Meinungsstreit findet zu wenig statt. Zuschauer, das gesamte Publikum, Hörer erfahren davon zu wenig.“
Hier sind wir bei einem zentralen Punkt der seit über 40 Jahren geführten Diskussion über Rundfunkfreiheit. „Wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ausgeführt hat, ist die Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG eine dienende Freiheit“, betonen die Verfassungsrichter zum Beispiel in der 6. Rundfunkentscheidung aus dem Februar 1991 (BVerfGE 83 238, 399).
Und sie führen weiter aus: „Sie dient der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung, und zwar in einem umfassenden, nicht auf bloße Berichterstattung oder die Vermittlung politischer Meinungen beschränkten Sinn.“ (Ebd.)[iv]
Die Pflicht zur inneren Rundfunkfreiheit
Schon zehn Jahre zuvor stellten die Verfassungsrichter in der 3. Rundfunkentscheidung fest: „Die Rundfunkfreiheit dient der gleichen Aufgabe wie alle Garantien des Art. 5 Abs. 1 GG: der Gewährleistung freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung, dies in einem umfassenden, nicht auf bloße Berichterstattung oder die Vermittlung politischer Meinungen beschränkten, sondern jede Vermittlung von Information und Meinung umfassenden Sinne“ (BVerfGE 57 295, 101). Dabei „bedingen und stützen“ einander „subjektiv- und objektivrechtliche Elemente“ bei der Normierung von Meinungsfreiheit als objektivem „Prinzip der Gesamtrechtsordnung“ (ebd.).
Und sehr wegweisend führten die Verfassungsrichter 1981 aus: „Freie Meinungsbildung vollzieht sich in einem Prozess der Kommunikation. Sie setzt auf der einen Seite die Freiheit voraus, Meinungen zu äußern und zu verbreiten, auf der anderen Seite die Freiheit, geäußerte Meinungen zur Kenntnis zu nehmen, sich zu informieren“ (ebd.).
Das wird im Urteil von 1991 noch ergänzt: „Von Verfassungs wegen kommt es vielmehr
allein auf die Gewährleistung freier und umfassender Berichterstattung an“ (BVerfGE 83 238,400).
Die Rundfunkfreiheit, auch die innere Rundfunkfreiheit, begründet also nicht nur Rechte der Programmmacher, sondern erlegt diesen vor allen Dingen Pflichten aus, nämlich die Pflichten einer freien und umfassenden Berichterstattung. Und diese muss dem Urteil der Verfassungsrichter zu folge auch noch Information und Meinung in einem umfassenden Sinne vermitteln. Nur so könne eine freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung gewährleistet sein.
Es geht um umfassende Berichterstattung
Die Verfassungsrichter: „Es bedarf dazu (…) einer positiven Ordnung, welche sicherstellt, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet und dass auf diese Weise umfassende Information geboten wird“. (BVerfGE 57 295,104)
Wann ist also „innere Rundfunkfreiheit“ in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verwirklicht? Wenn wir 40 Jahre Debatte um innere Rundfunkfreiheit und die Rundfunkentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen, ist die innere Rundfunkfreiheit erst dann voll verwirklicht, wenn „frei, umfassend und wahrheitsgemäß informiert“ wird (BVerfGE 83 238, 400).
Das jedoch wird in Frage gestellt. Nicht nur Medienanalytiker in der Tradition der journalistischen Feldtheorie Pierre Bourdieus stellen fest, dass die zu große Homogenität in den Redaktionen ein solches Gebot der umfassenden Information in viel zu vielen Fällen verhindert.
Selbst der von jedem Verdacht, ein Parteigänger Bourdieus zu sein, freizusprechende Stefan Brandenburg, Chefredakteur von WDR Aktuell, stellte bereits im August 2023 fest: „In unserer eigenen Lebenswelt sind wir einander zu ähnlich, in unseren Werdegängen, in unserer Weitsicht. Manchmal in unserem Wunsch, besonders progressiv daherzukommen.“ (Brandenburg 2023) Multiperspektivität in der Berichterstattung ist allzu häufig noch Desiderat.
Bei der Frage nach den Grundlagen von innerer Rundfunkfreiheit und der gegenwärtigen Verfasstheit der Berichterstattung hat Horst Pöttker den Blick für „Schlüsselbegriffe wie Grundversorgungsauftrag, Binnenpluralismus, Wahrheitspflicht oder Fairness“ geschärft (Pöttker 2023, 267). Seine Analyse der hier bestehenden Defizite ist hilfreich, um unsere hier interessierende Frage nach der Verwirklichung von innerer Rundfunkfreiheit beantworten zu können.
Allerdings geht diese weit über die behandelte innere Rundfunkfreiheit hinaus, etwa bei der fehlenden gesellschaftlichen Pluralität in den Aufsichtsgremien (270), Zweifel an der Staatsferne (273), „die Mischung von journalistischen mit werbenden Anteilen“ (275), belehrende Wirkungen in der Programmgestaltung sowie „Mängel an professioneller Sorgfalt und Tiefe der Recherche“ (276).[v]
Einseitige Berichterstattung beklagt sogar der frühere Intendant des Südwestrundfunks, Peter Voß, was ihn zu der Frage führt: „wie sich in den Redaktionen das Bewusstsein für Fairness und Differenzierung generell schärfen lässt, das doch schon die Konsequenz des öffentlich-rechtlichen Selbsterhaltungstriebs sein müsste“ (Voß 2023). Sein Urteil: „Was ARD und ZDF sich leisten, ist besorgniserregend. Die Öffentlich-Rechtlichen unterhöhlen ihr Fundament“. Die Skandaldichte sei beachtlich (ebd.).
So müssen wir feststellen: Dem Gebot der geforderten freien, umfassenden und wahrheitsgemäßen Information wird zu oft nicht entsprochen.[vi] Insofern ist auch die innere Rundfunkfreiheit als Pflicht zur umfassenden Vermittlung nicht ausreichend verwirklicht.
Literatur:
Brandenburg, Stefan (2023): Debatte über Tageschau. Warum Skepsis hilft, Spekulation aber nicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 8. August 2023
Bundesverfassungsgericht (1981): 3. Rundfunkentscheidung, Urteil des Ersten Senats vom 16. Juni 1981 auf die mündliche Verhandlung vom 24. März 1981 - BVerfGE 57 295
Bundesverfassungsgericht (1991): 6. Rundfunkentscheidung, Urteil des Ersten Senats vom 5. Februar 1991 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 30. Okotber 1990 - BVerfGE 83 238
Cremer, Georg (2023): Das kritische Korrektiv fehlt. Erwartungsgelenkte Verzerrungen in der Berichterstattung über den Sozialstaat Deutschland, in: : Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung (6) 2, Seite 213-231
Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland https://meinungsvielfalt.jetzt/ (01.05.2024)
Pöttker, Horst (2023): Informationsvorsorge. Überlegungen zu einer überfälligen Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, in: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung (6) 3-4, Seite 265-285
Voß, Peter (2023): Die Skandaldichte ist beachtlich, in: FAZ vom 05.08.2023
Wagner, Jörg (2024): ÖRR: Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in: Medienmagazin-Podcast vom 06.04.2024 https://www.ardaudiothek.de/episode/medienmagazin/initiative-nachrichtenaufklaerung-oder-manifest-oder-slapp-oder-stipendium/radioeins/13296525/ (01.05.2024)
Welchering, Peter (2023): Reform oder Reparatur. Hilferufe als Klopfzeichen aus dem Maschinenraum der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in: : Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung (6) 3-4, Seite 253-264
[i] Transparenzhinweis: Ich bin einer der Erstunterzeichner des Manifestes, die offen mit ihrem Namen dieses Manifest unterschrieben haben.
Am 29. April 2024 fand eine deutschlandradioweite Videoschalte zu aktuellen Herausforderungen im Journalismus statt, bei der auch das „Manifest“ diskutiert wurde. Die Diskussion war ausgesprochen intensiv und facettenreich.
[ii] Manifest,2024, 2, fettende Hervorhebung im Original)
[iii] Ähnlich äußerte sich Gabor Halasz am 4. April 2024 auf Twitter/X : „In allen Redaktionen, in denen ich gearbeitet habe, wurde diskutiert. Nichts wurde von oben vorgegeben. Und wenn es jemals jemand versucht hat, haben sich starke Kolleginnen und Kollegen gewehrt. Das #Manifest zum #ÖRR überzeugt mich nicht vom Gegenteil.“ https://x.com/gaborhalasz1/status/1775867498308808719 Halasz legt hier und im Laufe der Debatte ein unzulässig verkürztes Verständnis von Rundfunkfreiheit an den Tag. Diese ist für ihn bereits garantiert, wenn eine Meinung vorgetragen werden darf. Die sich aus der inneren Rundfunkfreiheit ergebende Pflicht, umfassend, unvoreingenommen und wahrheitsgemäß zu informieren als Grundlage unter anderem für die Programmgrundsätze öffentlich-rechtlicher Anstalten wird erstaunlicherweise von vielen Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Zusammenhang dieser Diskussion nicht gesehen. Ob es sich dabei nur um eine taktische Positionierung handelt oder diese Konsequenz innere Rundfreiheit als Teil der Rundfunkfreiheit einfach nicht gewusst wird, lässt sich wohl nur im jeweiligen Einzelfall klären. Bei Gabor Halasz sehe ich aus dem Diskussionsverlauf Anzeichen, dass er diese Konsequenz innerer Rundfunkfreiheit aus taktischen Gründen ausblendet, um die Bewertung der Arbeit der Redakteursausschüsse von diesem Aspekt freizuhalten.
[iv] Inwieweit die Anstalten der ARD nach dem massiven Abbau der Wissenschaftsformate und der Wissenschaftsberichterstattung noch dem verfassungsgemäßen Auftrag und ihren gesetzlich vorgegebenen Programmaufträgen nachkommen, ist eine spannende Frage. Diese Diskussion nimmt langsam Fahrt auf.
[v] „Auch der Deutschlandfunk verfällt z. B. anders, als sein seriöses Image glauben macht, in unzutreffende sozialpolitische Klischees, die einen allzu flüchtigen Umgang mit amtlichen Statistiken erkennbar machen“, schreibt Pöttker 2023, 276 und verweist auf den sehr interessanten Debattenbeitrag von Cremer 2023
[vi] Vgl. die Diskussion dazu in Welchering 2023
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