„Sagen, was ist“ – Aber: was ist dabei wahr? Phänomenologische Erkenntnistheorie und ihre Anwendung auf das journalistische Feld

Wird die phänomenologische Erkenntnistheorie auf Journalistik und Journalismus angewandt, so beschreibt sie die Bedingungen der Möglichkeit einer – intersubjektiven – Konstitution von Welterkenntnis. Damit lassen sich zahlreiche für die Verortung journalistischer Positionen maßgebliche Fragen beantworten: Wie werden journalistische Produkte konstituiert? Welche Urteilskriterien spielen bei dieser Konstitution eine Rolle? Wie lassen sich die konstituierten Fakten und ihr Wahrheitsgehalt überprüfen? Es geht um Antworten auf diese Fragen.

 

 

 

1.      Was digitale Bildforensik mit Erkenntnistheorie zu tun hat

 

Um eine glatte Stunde haben wir die Nachmittagssitzung des Seminars „Einführung in den Wissenschaftsjournalismus“ überzogen. Erschwerend kommt hinzu: Das geschah an einem Sommer-Samstag bei bestem Biergartenwetter. Es ging um die Frage: Wir objektiv muss und kann Journalismus arbeiten? Kann ein Journalist neutral sein? Schnell hatten wir die üblichen Fragen bezüglich der lebensweltlichen Prägung und bestehender weltanschaulicher Positionen, die auch Journalisten haben, abgehakt. Natürlich wirken sich solche individuellen Haltungen und persönlichen Präferenzen auf die journalistische Tagesarbeit aus. Davon können wir uns nie freimachen. Aber müssen wir die Orientierung am Objektivitätsideal deshalb aufgeben? Leitet uns diese Erfahrung der journalistischen Praxis wirklich zur Forderung: Schafft die Neutralität im Journalismus ab“?

 

Journalismus sei da aber doch ziemlich nah an der Wissenschaft, erst recht der Wissenschaftsjournalismus, meinte eine Seminarteilnehmerin. Flugs hatte ein anderer Teilnehmer das passende Zitat aus dem Seminarapparat parat: „Wissenschaft betreiben heißt: methodisch kontrolliert Probleme bearbeiten“ (Pörksen 2006,28). Zumindest in der Recherche sei das doch im Journalismus ganz ähnlich. Also müsse man sich anschauen, wie dieses Wissen eben produziert werde.

 

Und dafür nahmen wir noch einmal den Samstagvormittag in den Blick. Wir hatten uns angeschaut, wie ein Video aus Bucha, einer Vorstand von Kiew, das die Medien in Deutschland am 3. April 2022 erreichte, verifiziert worden war. (vgl. zur Bildforensik Welchering 2022)

 

Wir hatten die üblichen Plausibilitätschecks an diesem Video vorgenommen und hatten die belegbaren Aussagen, die in videoforensischer Hinsicht getroffen werden konnten, zusammengefasst. Dabei wurden auch die Grenzen der vorgestellten videoforensischen Methoden thematisiert und damit, welche Aussagen in einem journalistischen Beitrag über das Video aus Bucha getroffen werden konnten und zu welchen Themen wir uns als Rechercheure und Journalisten jeder Aussage zu enthalten hatten.

 

Der Zeitpunkt der Videoaufnahme ließ sich feststellen, ebenso, dass das Video auf einer Patrouillenfahrt durch Bucha aufgenommen worden war. Wir konnten die Stellen, an denen Leichen lagen, sehr genau ermitteln. Und wir konnten anhand von Satellitenfotos feststellen, dass die Toten dort am 19. März 2022 lagen, aber noch nicht vor der russischen Besatzung auf einer Satellitenaufnahme vom 28. Februar zu sehen waren. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die toten Menschen während der russischen Besatzung auf die Yablunska-Straße kamen und dort nicht erst nach dem Rückzug der russischen Truppen am 30. März 2022.

 

Um Aussagen treffen zu können, was in Bucha passiert war, vergegenwärtigten wir uns noch einmal den ehernen Grundsatz der Faktenprüfung, der leider immer wieder von so vielen Factcheckern missachtet wird: Faktenprüfung muss unvoreingenommen und ohne Tendenzvorgabe erfolgen. Nur die festgestellten und belegten Fakten dürfen dabei bewertet werden. Unsere politischen oder weltanschaulichen Vorstellungen haben bei einer Faktenprüfung nichts zu suchen.

 

So müsse das doch generell im Journalismus gehandhabt werden, merkte ein Seminarteilnehmer an und verwies auf eine weitere Folie des Vormittags, die die drei „Goldene Regeln für die Faktenprüfung“ präsentierte. Er zitierte die erste „goldene Regel“: nämlich 1. Es wird unvoreingenommen geprüft, alle lebensweltlich‐weltanschaulichen

 

(Vor‐)Urteile werden eingeklammert und außer Kraft gesetzt (erkenntnistheoretische Methode der phänomenologischen Reduktion).“ Das mit der Reduktion müsse doch von der Faktenprüfung auf den gesamten Journalismus übertragbar sein.

 

 

 

Genau das war der Startpunkt einer sehr intensiven dreistündigen Debatte. Denn die Diskussion über Neutralität und Objektivität im Journalismus schwankt ja in erkenntnistheoretischer Hinsicht zwischen einem naiven Realismus und einem nicht mehr begründbaren Solipsismus (vgl. Pörksen 2006, 26f.) Also geht es im Journalismus um die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger,Luckmann 1982). Da kann man sich am Büffet der konstruktivistischen Erkenntnistheorien wunderbar bedienen.

 

 

 

Nur in einem Punkt helfen uns alle diese konstruktivistischen Ansätze nicht so richtig weiter. Peter Berger und Thomas Luckmann bringen das so auf den Punkt: „Wenn wir die Wirklichkeit der Alltagswelt verstehen wollen, so müssen wir uns nach ihrem Wesen als Wirklichkeit fragen, bevor wir zur eigentlichen soziologischen Analyse kommen können“ (Berger, Luckmann 1982,21). Hier bedienen sich Berger und Luckmann des phänomenologischen Ansatzes von Edmund Husserl, um diese Frage beantworten zu können. Und sie greifen dabei auch auf den Methodenapparat zurück, der in der Phänomenologie Husserls als transzendentale Reduktion gehandelt wird.

 

 

 

2.      Medienepistemologie und Faktenprüfung

 

 

 

Im Alltag sind wir auf unsere Bezugsgegenstände schlechthin bezogen. Wir nehmen Informationen über die Leichen auf den Straßen von Bucha zur Kenntnis und ordnen sie ein. Um verantwortungsvoll journalistisch arbeiten und berichten zu können, müssen wir transparent machen, wie diese Einordnung geschieht.

 

 

 

Dabei hilft die von Husserl ausgearbeitete transzendentale Einstellung. In der sind wir nämlich auf die alltäglichen Bezugsgegenstände als intentional konstituierte Bezugsgegenstände bezogen. So wird thematisiert, dass unsere Umwelt mit allen ihren Gegenständen in uns als personalem Subjekt verwurzelt ist.

 

 

 

Es geht dabei darum, die intentionale Beziehung des Bewusstseins auf einen Gegenstand (z.B. recherchiertes Faktum) genau zu beschreiben. Und hinsichtlich dieses intentionalen Gegenstandes darf nur ausgesagt werden, was sich aus der intentionalen Beziehung des Bewusstseins auf diesen Gegenstand ergibt. Somit ist weder das Sein der Welt geleugnet noch die Erzeugung allen Seins durch ein Bewusstsein behauptet, noch eine vom Bewusstsein völlig unabhängige Realität.

 

 

 

Die in der Debatte um journalistische Objektivität so beliebten realistischen und solipsistischen Standpunkte sind also außen vor. Daraus erwachsen zahlreiche Konsequenzen für die Diskussion über eine journalistische Haltung mit ihrer Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, ihrer Orientierung am Objektivitätsideal und die Einnahme einer „neutralen“ Positionierung bei der Recherche und bei der Verfertigung journalistischer Beiträge.

 

 

 

Diese medienepistemologischen Voraussetzungen einer journalistischen Haltung, die von der Gesinnung wohl zu unterscheiden ist und sich erst recht von einem Gesinnungsjournalismus abzugrenzen hat (Welchering 2020), müssen natürlich explizit dargelegt werden. Diese Darlegung geht aus von Niklas Luhmanns Diktum: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 2004,9).

 

Daraus ergeben sich nicht nur Forderungen für eine journalistische Haltung wie zum Beispiel  die Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit oder die Bindung an das Objektivitätsideal. Vielmehr ist damit das Arbeitsfeld einer Medienepistemologie vorgezeichnet. Wenn Medien unser Wissen von Welt und somit Weltwissen zumindest vorstrukturieren, dann müssen wir aufklären, wie diese Struktur zustande kommt.

 

Deshalb bezeichnet Bernhard Pörksen Medienepistemologie als einen „Forschungsbereich, der sämtliche Medien auf ihre wirklichkeitskonstitutive Prägekraft hin untersucht und die eigenen Befunde in Abhängigkeit vom jeweiligen Medienverständnis entweder in Form erkenntnistheoretischer All-Aussagen und/oder empirisch gemeinter Trendhypothesen formuliert“ (Pörksen 2006 176). Pörksen will so eine „konstruktivistische Medienepistemologie“ ins Werk setzen. 

 

Das hat seine Berechtigung, geht mir aber nicht weit genug. Ich nehme deshalb Pörksens Ausgangsfrage: „Wie konstruieren Medien und Journalisten Realität und wie lässt sich die Realität ihrer Realitätskonstruktion beobachten“ (Pörksen 2006,176) und ändere die Frage leicht ab: Wie konstituieren Journalistinnen und Journalisten ihre journalistischen Produkte und damit Realität und wie lassen sich die Konstitutionsprozesse analysieren?

 

3.      Phänomenologische Grundlagen für die journalistische Arbeit

 

 

 

Edmund Husserls Ziel war die Begründung von Philosophie als strenger Wissenschaft. Dieses wissenschaftstheoretische Programm hatte mehrere erkenntnistheoretische Module, in deren Mittelpunkt die Konstitutionsanalyse der Wissenschaft leistenden Subjektivität steht. Es geht ihm um einen letztbegründeten Ansatz in der Philosophie. „Das System wird zu einer Aufgabe, der sich die philosophische Forschung nur durch in infinitum fortgesetzte Bemühungen annähern kann“ (Seebohm 1962,1)

 

 

 

In seinem am 7. und noch einmal am 10. Mai 1935 im Wiener Kulturbund gehaltenen Vortrag „Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit“ spricht Edmund Husserl von einem „ewigen Pol“ (Hua VI 320). Philosophie, universale Wissenschaft „geht auf eine im Unendlichen liegende Normgestalt hin“ (Hua VI 322). Jede wissenschaftliche Erkenntnis erhält „im voraus den Sinn eines bloß relativen Endzieles, es wird Durchgang zu immer neuen, immer höherstufigen Zielen in einer als universales Arbeitsfeld, als ‚Gebiet‘ der Wissenschaft vorgezeichneten Unendlichkeit.

 

 

 

Wissenschaft bezeichnet also die Idee einer Unendlichkeit von Aufgaben, von denen jederzeit eine Endlichkeit schon erledigt und als bleibende Geltung aufbewahrt ist. Diese bildet zugleich den Fonds von Prämissen für einen unendlichen Aufgabenhorizont als Einheit einer allumgreifenden Aufgabe“ (Hua VI 323f.).

 

 

 

Wahrheit wird so zu einem Grenzwert. „Darin liegt eine Unendlichkeit, die jeder faktischen Bewährung und Wahrheit den Charakter einer nur relativen, einer bloßen Annäherung gibt, eben bezogen auf den unendlichen Horizont, in dem die Wahrheit an sich sozusagen als unendlich ferner Punkt liegt“ (Hua VI 324).

 

 

 

Dabei unterscheidet Husserl  zwischen „Philosophie als historisches Faktum einer jeweiligen Zeit und Philosophie als Idee, Idee einer unendlichen Aufgabe“ (Hua VI 338). Diese Unterscheidung verhindert nämlich effektiv, dass einzelne Theoriebestände, Wahrheiten oder Erkenntnislinien verabsolutiert werden. Der Ansatz einer in infinitum gehenden Suche nach Letztbegründung wird damit zum kritischen Korrektiv gegenüber den jeweils herrschenden wissenschaftlichen Paradigmen gegeben.

 

 

 

Der ständig neue Weg zur Letztbegründung als einer universalen Besinnung wird dabei durch „Unklarheiten und Widersprüche“ (Hua VI 339) als Anzeichen der Unzulänglichkeit der konkret ausgearbeiteten Philosophie und im weiteren auch Wissenschaftsansätze und Theorien motiviert. Diese Unklarheiten und Widersprüche „sind durchaus Probleme, die aus der Naivität stammen, in der die objektivistische Wissenschaft das, was sie objektive Welt nennt, für das Universum alles Seienden hält, ohne darauf zu achten, dass die Wissenschaft leistende Subjektivität in keiner objektiven Wissenschaft zu ihrem Rechte kommen kann“. Der Weg zur Letztbegründung ist deshalb der Weg in „die Wissenschaft leistende Subjektivität“  (Hua VI 342).

 

 

 

Dieses Programm entwickelt Husserl im Schlussparagraphen der Krisis-Schrift noch einmal zusammenhängend. Indem er die Unabgeschlossenheit des Programms herausarbeitet, wird auch die methodische Funktion der Frage nach Letztbegründung als einem kritischen Korrektiv deutlich.

 

 

 

„Wahrheit an sich“ ist dabei für Husserl keine bedeutungslose Fiktion, sondern die Triebfeder der Wissenschaftsgeschichte. Sie hebt den Menschen auf eine neue Stufe „in einer neuen Historizität menschlichen Lebens, deren Entelechie diese neue Idee ist und die ihr zugeordnete philosophische und wissenschaftliche Praxis, die Methodik eines neuartigen wissenschaftlichen Denkens“ (Hua VI,271).

 

 

 

Die sich daran anschließenden wissenschaftstheoretischen und epistemologischen Überlegungen zum gängigen Begriff der Objektivität als eines Bereiches „an sich“ zeigen dabei auf, dass in der Objektivitätsdebatte ein naturalistischer Objektivismus anzutreffen ist. Auch die idealistischen Theorieansätze konnten „sich zumeist nicht von geheimen objektivistischen freimachen“ und versäumten es, „die aktuelle Subjektivität, als aktuelle phänomenologische Welt in Anschaulichkeit in Geltung habende konkrete und analytisch zu befragen – was recht verstanden nichts anderes ist, als phänomenologische Reduktion zu vollziehen und transzendentale Phänomenologie ins Spiel zu bringen“ (Hua VI,272). Der spekulative Idealismus schaffte es nicht, die Analyse der Subjektivität in ihrer Weltkonstitution vorzunehmen.

 

 

 

4.      Wege zu einer transzendental-phänomenologischen Reduktion als Fundierung einer phänomenologischen Medienepistemologie

 

 

 

Diese Konstitutionsanalyse nimmt sich Husserl vor. Er zeigt in seinen zahlreichen Forschungsmanuskripten verschiedene Motivationswege zur transzendental-phänomenologischen Reduktion auf. Diese Wege in die Transzendentalphilosophie sollen einen Zugang zur transzendentalen Subjektivität leisten.

 

 

 

Marius Köppel weist in seiner Dissertationsschrift auf die grundlegende Funktion der Wege in die Reduktion hin: „Es eröffnet sich die ‚Grundfrage der Phänomenologie‘: die ‚Frage nach dem Ursprung der Welt‘ im Bewusstsein von ihr. Die Frage lautet eigentlich: wie komme ich bewusstseinsmäßig dazu, überhaupt so etwas wie eine Welt zu haben?“ (Köppel 1977,100f.)

 

 

 

Die „Grundmethode Husserlscher Philosophie“ (Fink 1966,81-105) ist im Wesentlichen eine Methode der Konstitutionsanalyse. Husserl entwickelt den ersten methodischen Reduktionsansatz als er im Wintersemester 1906/07 die Phänomenologie als allgemeine Wissenschaftstheorie etablieren will. Das soll über eine entsprechende Erkenntnistheorie in Bezug zur Wissenschaftslehre geschehen. Dabei geht es um den Rückgang (re-ducere) auf das Bewusstsein in seiner weltkonstituierenden Aktivität.

 

 

 

Rudolf Boehm, Iso Kern und Ante Pazanin, aber auch Klaus Held und Lina Rizzoli haben Systematiken dieser Wege zur transzendentalen Redaktion vorgelegt (vgl. u.a. Welchering, 2011, Kapitel II). Ich beschränke mich auf die in systematischer Hinsicht ergiebigste Beschreibung von Iso Kern, die er erstmalig 1962 in der Tijdschrift voor Filosofie in einem Aufsatz „Die drei Wege zur transzendental-phänomenologischen Reduktion in der Philosophie Edmund Husserls“ veröffentlicht hat.

 

 

 

Kern unterscheidet den Cartesianischen Wegekomplex vom Weg über die phänomenologische oder intentionale Psychologie und vom Weg über die Ontologie. Den Beginn des Cartesianischen Weges „bildet die Idee der Philosophie als einer absolut begründeten Wissenschaft, die sich von einem absoluten Anfang aus (…) in einem absolut begründeten Fortgang aufbaut (Kern 1962,304). Eine solche Philosophie kann nur von einer absoluten Evidenz ausgehen.

 

 

 

Keine Welterkenntnis entspricht jedoch der Forderung nach einer absoluten Evidenz, weil aller Welterkenntnis der Glaube an das Sein der Welt zugrunde liegt. So ergibt sich die Forderung, dass alle Philosophie, die als absolute Wissenschaft auftreten will, sich gegenüber dem Weltglauben und der Welterkenntnis enthalten muss. Die Welterkenntnis muss ausgeschaltet werden.

 

 

 

Allerdings bleibt dann die Frage, „ob überhaupt noch eine geltende Erkenntnis übrig bleibt, wenn alle transzendente Welterkenntnis außer Geltung gesetzt worden ist“ (Kern 1962,305). Und tatsächlich, etwas bleibt übrig, nämlich das „Ich denke“ des Denkenden, der die Weltgeltung außer Kraft gesetzt hat. Das „ich denke“ – oder bildungsbürgerlich schöner ausgedrückt: cogito – ist Gegenstand einer rein Immanenten Erkenntnis. Deshalb ist es absolut evident.

 

 

 

Aber dieses „Ich denke“ erweist sich in einer Hinsicht als inhaltsreich. Es trägt nämlich rein intentional die Welt als gedachte (cogitatum) in sich. Deshalb trägt es die ganze Welt auch rein immanent in sich. Diese Ausklammerung oder Epoché ist jedoch weder als Negation von Welt, noch als Antithesis zur Thesis der Welterfahrung, noch als Verdoppelung der Welt zu verstehen.

 

 

 

Bei letzterem würde ja neben einer „Welt an sich“ noch eine „Welt für uns“ bestehen. Das aber meint Husserl nicht. Vielmehr bleibt die außer Geltung gesetzt Welt und ihr Gehalt als Gedachtes für den Denkenden bestehen, das heißt „nicht mehr in ihrer ursprünglichen Geltung sondern bloß als ‚cogitatum qua cogitatum‘, d.h. als bloßes ‚Phänomen‘“ (Kern 1962, 305). Der Mensch wird zum Gedachten, zum cogitatum der reinen Subjektivität, die in ihrem vollen Umfang erfasst ist, weil der gesamte Weltgehalt zum Phänomen geworden ist. [1]

 

 

 

 Der Weg über eine phänomenologische oder intentionale Psychologie beginnt  mit einem Rekurs auf die Naturwissenschaften bzw. Körperwissenschaften. Husserl betont, dass die neuzeitliche Naturwissenschaft „ihre Wurzel in der konsequenten Abstraktion hat, in der sie an der Lebenswelt nur Körperlichkeit sehen will“ (HuaVI,230).

 

 

 

Deshalb stellt sich die Frage nach einer ergänzenden Wissenschaft, „die sich rein für das Seelische interessiert und von allem Körperlichen abstrahiert“ (Kern 1962, 322). Die Naturwissenschaft bzw. die natürliche Erfahrung fasst die intentionale Beziehung der Erlebnisse auf die Gegenstände als reale Beziehungen auf, „d.h. am Leitbild der Beziehungen zwischen Körpern“ (Kern 1962,322).  Diese reale Beziehung muss aber gerade ausgeklammert werden. Denn eine die Körperwissenschaften ergänzenden Abstraktion der Psychologie muss die Wirklichkeit des intentionalen Gegenstandes des Erlebnisses außer Geltung setzen.

 

 

 

„Ein reines Erlebnis kann ich nur dadurch gewinnen, dass ich mein Interesse an der Wirklichkeit des intentionalen Gegenstandes inhibiere und mich des Vollzugs seiner Geltung enthalte“ (Kern 1962,322). Jedes Erlebnis setzt die Welt qua intentionale Implikation als geltende. Deshalb ist auch die Einzelreduktion an Gegenständen, Erlebnissen oder Erlebniszusammenhängen unzureichend.

 

 

 

„Die Epoché muss aber wirklich universal und darin radikal durchgeführt sein. Sie darf nicht etwa gemeint sein als eine kritische, ob der Selbstkritik oder Fremdkritik, ob einer theoretischen, ob einer praktischen Kritik dienende Epoché“ (HuaVI,243). Mit einem Schlage müssen vielmehr alle Geltungen außer Vollzug gesetzt werden. Durch diese universale Epoché kann die intersubjektive Konstitution von Welt in den Blick genommen werden. So erweist sich diese Intersubjektivität als eine transzendentale.

 

 

 

Ausgangspunkt des Weges über die Ontologie ist die positive Ontologie bzw. Logik. Dabei ergibt die Begriffsanalyse, dass „positive Ontologie“ drei Bedeutungen haben kann. Sie enthält erstens als formale Logik oder Ontologie die formalen Prinzipien der Wissenschaften, ist also allgemeine Wissenschaftstheorie. Zweitens können mit „positiver Ontologie“ die materialen oder regionalen Ontologien gemeint sein, die die besonderen Prinzipien und Normen der einzelnen positiven Wissenschaften bilden, also als Bereichswissenschaftstheorien auftreten. Drittens  kann damit die Ontologie der Lebenswelt gemeint sein, die das Fundament aller wissenschaftlichen Logik bzw. Ontologie bildet.

 

 

 

„Je nachdem, bei welcher dieser drei verschiedenen Grundarten von Ontologien der Weg über die Ontologie einsetzt, erscheint dieser Weg als Weg über die formale Logik, als Weg über die Kritik der positiven Wissenschaften oder als Weg über die Ontologie der Lebenswelt“ (Kern 1962,322).

 

 

 

Letztgenannter bildet den grundsätzlichsten Ausgangspunkt für den Weg über die Ontologie, da alle andere Ontologien auf die Ontologie der Lebenswelt zurückbezogen sind. Die Ontologie der Lebenswelt ist ein Aspekt, der sich erst im Spätwerk Husserls ausbildet. „Die Wissenschaften bauen auf der Selbstverständlichkeit der Lebenswelt, indem sie von ihr her das für ihre jeweiligen Zwecke jeweils Nötige sich zunutze machen“ (Hua VI,128), stellt Husserl nachdrücklich in der Krisis-Schrift fest. Er schildert diesen Prozess am Beispiel des Michelsonschen Experiments durch Einstein.

 

 

 

Allerdings will Husserl dabei auf die Subjektvergessenheit moderner Wissenschaften hinaus. Die in den positiven Wissenschaften als erfolgreiche Arbeitshaltung eingenommene du dort auch durchaus sinnvolle Subjektvergessenheit schlägt nämlich auf die positiven Ontologien durch, führt dort auch zur Subjektvergessenheit. Weil dadurch von der Subjektbezogenheit des Wissens abgesehen wird, führt das zu Fehlinterpretationen im Bereich der Ontologie. Deshalb muss zunächst das ontologische Apriori geklärt werden.

 

 

 

Die Abstraktheit der positiv-ontologischen Erkenntnis muss dabei überwunden und zweitens das ontologische Apriori in Beziehung zur Subjektivität betrachtet werden. Das bedarf aber einer radikalen Einstellungsänderung. Der Blick muss vom Positiv-Ontologischen bzw. der Welt weggewendet werde und hingewendet werden auf die Subjektivität, „in deren mannigfaltigem Leben sich das Positive ‚darstellt‘ (‚konstituiert‘) (Kern 1962, 328).

 

 

 

Somit erweist sich diese Subjektivität, „in der sich alle Objektivität konstituiert“, als transzendentale. Diese Korrelation von Positivität und Subjektivität wird dabei Gegenstand konstitutionsanalytischer Forschung. Dabei darf das transzendentale Leben, das Konstitutionsgeschehen, nicht durch positive Sätze erklärt werden. Alle positiven Sätze müssen außer Geltung gesetzt werden.

 

 

 

Positive Geltungen dürfen für die transzendentale Forschung nicht Prämissen sein. Sie sind demzufolge nur als intentionale Korrelate des subjektiven Lebens im transzendentalen Bereich anzutreffen. „Diese Methode muss vor allem anderen dafür sorgen, dass wir, wenn wir philosophieren, die Bezugsgegenstände als solche, die es in der transzendentalen Phänomenologie zu erfassen gilt, nicht mit den Bezugsgegenständen schlechthin, mit denen wir es in den (‚klassischen‘) Naturwissenschaften und im alltäglichen Leben zu tun haben, durcheinanderbringen“, beschreibt mein früherer philosophischer Lehrer Hans-Ulrich Hoche, der sprachanalytische Ansätze mit phänomenologischen Konzepten ins Gespräch gebracht hat, die Aufgabe der transzendentalen Reduktion (Hoche 1973,199).

 

 

 

Husserl verwendet häufig das Wort „Umstellung“ zur Charakterisierung der Redaktion und führt in diesem Zusammenhang aus, dass die Reduktion eine Einstellungsänderung sei. „Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen“, schreibt Husserl in der Krisis-Schrift (Hua VI 193). Und das ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht ein ganz entscheidender Punkt.

 

 

 

Denn dieses Verständnis wird erst erreicht, wenn wir verstehen, wie Weltwissen und Welt konstituiert werden. Dieses Konstitutionsgeschehen muss analysiert werden, um Evidenz erlangen zu können.

 

 

 

Evidenz ist dabei kein apodiktischer Ausgangspunkt mehr, sondern als „Grenzwert“ zu fassen. Evidenz ist ein – gleichwohl unerreichbares – Ziel, das der Philosophie als Wissenschaft als Maßstab dient.

 

 

 

5.      Phänomenologische Medienepistemologie als Konstitutionsanalyse

 

 

 

Dieser Maßstab, der sich aus dem Grenzwert-Konzept von Evidenz ergibt, muss aber auch im Journalismus angewendet werden, wenn hier verantwortungsvoll gearbeitet werden soll. Allerdings sprechen wir dann vom Objektivitäts-Ideal, an dem wir uns orientieren wollen. 

 

Wenn wir vom Gebot der Neutralität in der Berichterstattung sprechen, dann wollen widersprechen wir nicht nur einer aktivistischen Berichterstattung, sondern wollen politische, weltanschauliche. Lebensweltliche Voreinstellungen und Befindlichkeiten außer Geltung setzen.

 

 

 

„In all dem liegen Stellungnahmen“, schreibt Husserl und fordert für den forschenden Psychologen als Arbeitshaltung im Rahmen der transzendentalen Reduktion über die intentionale Psychologie, was auch für den Journalismus zu fordern ist: „Der Psychologe aber darf als solcher innerhalb seiner Forschung, wie wir wiederholen, keine Stellung nahmen und haben, nicht zustimmend, nicht ablehnend, sich nicht in problematischer Schwebe haltend usw., als ob er hinsichtlich der Geltungen der ihm thematischen Personen mitzureden hätte“ (Hua VI,243).

 

 

 

Angewandt auf die journalistische Arbeit ergibt sich aus diesem Konzept eine Begründung dafür, die eigenen Weltanschauungen und Positionierungen in die Epoché zu nehmen. Das bedeutet, dass diese Weltanschauungen und Positionierungen nach wie vor da sind. Aber bei der konkreten Arbeit am konkreten journalistischen Beitrag klammere ich sie aus. Statt dessen wende ich den Blick auf die Konstitution und die Konstitutionsbedingungen des journalistischen Produkts, an dem ich gerade arbeite. Und das in jeder Phase der Arbeit am journalistischen Produkt, also auch schon in der Beitragsplanung, natürlich auch während der Recherchen, während des Schreibens, während der Produktion.

 

 

 

Vergegenwärtigen wir uns die Bedeutung der Epoché und der Konstitutionsanalyse am Beispiel der Faktenprüfung zum Video aus Bucha. Das Video lag vor, um es für einen journalistischen Beitrag als Material verwenden zu können, mussten nacheinander zwei Thesen geprüft werden.

 

 

 

Erste These: Das Video ist manipuliert. Diese These stammte von verschiedenen Aktivisten, die behaupteten, dass die ukrainische Regierung die Ablage der Leichen auf der Yablunska-Straße veranlasst habe. Zweitens musste die These geprüft werden, russische Soldaten hätten Ukrainer in Bucha erschossen und deren Leichen lägen jetzt auf der Yablunska-Straße.

 

 

 

Die entsprechenden Plausibilitätstests ergaben keine Anzeichen für ein gefälschtes Video, auch der Inszenierungsvorwuf, der durch weiteres Videomaterial belegt werden sollte, konnte widerlegt werden (zu den Details siehe Welchering 2022, 191f.) Zur Frage, wer für den Tod der auf der Yablunska-Straße liegenden Menschen verantwortlich sei, konnten keine Aussage getroffen werden. Denn diese Frage ist nicht mithilfe bildforensischer Methoden zu beantworten.

 

 

 

Hier wurde von Aktivisten – leider auch von im Journalismus Tätigen - durchaus Druck ausgeübt, um Rechercheure zu der Aussage zu bewegen, russische Soldaten seien für den Tod der auf der Yablunska-Straße gefundenen Menschen verantwortlich. Genau hier aber müssen weltanschauliche Positionen außer Kraft gesetzt werden, muss die Epoché als Arbeitshaltung vollzogen werden.

 

 

 

Die in der Faktenprüfung getroffenen Aussagen durften nur anhand der aus dem vorliegenden Material zu erhebenden Indizien formuliert werden. Wie dabei das journalistische Produkt jeweils konstituiert wird, muss permanent kritisch betrachtet werden.

 

 

 

Deshalb war auch das von aktivistischer Seite – teilweise durchaus nachdrücklich vorgetragene - vorgetragene Argument für die konkreten bildforensischen Recherchen außer Kraft zu setzen. Das Argument lautete:  „Aber die russische Armee hat doch die Ukraine angegriffen, deshalb müssen es russische Soldaten gewesen sein“.

 

 

 

Genau solche Voreinstellungen müssen in der Recherche und insgesamt in der journalistischen Arbeit außer Geltung gesetzt werden. Sie fallen der Epoché anheim. Und der mit dem Beitrag beschäftigte Journalist muss sich stets fragen: Kann ich diese bestimmte Aussage anhand des vorliegenden Materials rechtfertigen. Und das muss dokumentiert werden. Die begleitende Konstitutionsanaylse ist dabei entscheidend.

 

 

 

So lässt sich der  Konstitutionsprozess des journalistischen Beitrages transparent darstellen. Das phänomenologische Motto: „Zu den Sachen selbst“ wird hier also auf das vorliegende Recherchematerial angewandt. Und nur aus dieser Sachlage heraus dürfen Urteile gefällt werden.

 

 

 

Bei der Recherche und Faktenprüfung muss also immer wieder gefragt werden: Entspricht die jetzt getroffene Aussage im Beitrag, das gesetzte prädikative Urteil der Indizienlage? Die zweite Frage lautet: Wie sind diese Indizien entstanden?

 

 

 

Die Prüfung der Indizien erfordert Transparenz. Die wird erreicht, indem die Quellen unter Beachtung des Informantenschutzes offengelegt und die Bearbeitung des Quellenmaterials unter Vollzug der Epoché dargelegt wird. Dieser Vollzug muss kritisch überprüft werden.

 

 

 

Dann lässt sich genau nachvollziehen, wie das journalistische Produkt konstituiert wurde, indem die Konstitutionsleistung des oder der Journalisten transparent wird und die Bedeutung und Art des Quellenbezuges bei der Konstitution des journalistischen Produkts kritisch betrachtet wird.

 

 

 

Literatur:

 

Berger, L. Peter; Luckmann, Thomas (1977): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Fischer Frankfurt am Main, fünfte Aufl.  1977

 

Fink, Eugen (1966): Studien zur Phänomenologie 1930-1939, Martinus Nijhoff Den Haag 1966 (Phaenomenologica Band 21)

 

Hoche, Hans-Ulrich (1973): Handlung, Bewusstsein und Leib. Vorstudien zu einer rein noematischen Phänomenologie, Alber Freiburg 1973

 

Husserl, Edmund (1976): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die Phänomenologische Philosophie, herausgegeben von Walter Biemel, Martinus Nijhoff Den Haag zweite Aufl 1976 (Husserliana Band VI, zitiert mit Hua VI)

 

Kern, Iso (1962): Die drei Wege zur transzendental-phänomenologischen Reduktion in der Philosophie Edmund Husserls, in: Tijdschrift voor Filosofie, 24. Jahrgang 1962, 303-349

 

Köppel, Marius (1977): Zur Analyse von Husserls Welt-Begriff, Phil. Diss. Hochschulschrift, Universität Zürich 1977

 

Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesenbaden 3. Aufl 2004

 

Pörksen, Bernhard (2006): Die Beobachtung des Beobachters. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik, UVK Konstanz 2006

 

Seebohm, Thomas (1962): Die Bedingungen der Möglichkeit der Transzendental-Philosophie. Edmund Husserls transzendental-phänomenologischer Ansatz, dargestellt im Anschluss an seine Kant-Kritik, Bouvier, Bonn 1962

 

Welchering, Peter (2020): Gesinnung oder Haltung. Klärung in einer journalistischen Werte- und Erkenntnisdebatte, in: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3. Jahrgang 2020, Heft 3, 234-249

 

Welchering, Peter (2011): Wissenschaft als Grenzwert. Die noematische Phänomenologie in ihrer wissenschaftsbegründenden Funktion, AVM-Verlag München 2011

 

Welchering, Peter (2022): Das Elend mit den Bildern. Quellenanalyse und Faktenprüfung in Kriegszeiten, in: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 5. Jahrgang 2022, Heft 2, 186-197

 

 

 

 

 



[1] Zur Anwendung dieser Grundstruktur des Weges in Husserls Gesamtwerk und die von Iso Kern herausgearbeiteten Mängel des Cartesianischen Wegekomplexes siehe Welchering 2011,36-47

 

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Kommentare: 1
  • #1

    sc (Mittwoch, 11 Oktober 2023 10:52)

    Eine Übersicht über die wesentlichsten Faktenchecker und Netzwerke von Recherchezentren, deren Hauptaufgabe das Widerlegen von Desinformation ist: https://sensiblochamaeleon.blogspot.com/2023/09/faktenchecks-wahrheitssuche-peer-review.html

Was kann ein Comiccast?