Vor zwei Jahren musste ich mir einen Tumor herausschneiden lassen. Die Chirurgen haben gute Arbeit geleistet. Sechs Wochen nach der Operation war ich schon wieder auf dem Sender. Die Onkologen haben bisher eine wirklich gute Nachsorge hinbekommen. Trotzdem ist da eine Angst geblieben, mit der ich umgehen muss. Dazu habe ich gestern Abend in meinem Denktagebuch geblättert und einen Eintrag vom 20. Februar 2017 gefunden, der mir beim erneuten Lesen noch wichtiger geworden ist, als er es beim damaligen Schreiben war.
Der Text:
Bei der Routinebehandlung nach der Tumoroperation ist mir noch einmal sehr deutlich und klar der Gedanke gekommen, dass der
größte und am häufigsten begangene Fehler bei einer solchen Erkrankung darin besteht, sich vom diagnostizierten Tumor fremdbestimmen zu lassen. Solch eine Fremdbestimmung kann sich leicht
ergeben. Ihr nicht nachzugeben erfordert Kraft. Ihr nachzugeben kostet aber am Ende alle Kraft.
Deshalb ist die Überlegung sinnvoll, die Entscheidung im Blick auf künftige schleichende kräftezehrende Situationen zu treffen. Ich will hier keinem Vitalismus das Wort reden. Es geht vielmehr darum, sich auch von einem Tumor nicht das rauben zu lassen, aus dem man bisher gelebt hat. Und dazu gehört Tätigkeit.
Mit der vita activa von Hannah Arendt konnte ich eine Menge anfangen. Als Perspektive kam sie mir nach der Operation im Januar 2016 abhanden. Ich habe sie über Umwege teilweise quälender teleologischer Fragen wieder erschließen müssen. Aber das war nicht nur mühsam, sondern zeigte auch, dass genau dieses Tätigsein eine Kraftquelle sein kann. Und die darf ich eben nicht durch Hingabe an die Fremdbestimmung durch den Tumor versiegen lassen.
Die Entscheidung für ein selbstbestimmtes Leben muss immer wieder neu getroffen werden, und ich kann diese Entscheidung jetzt als Chance begreifen. Direkt nach der Operation schien mir das eine zwar denkerische, aber keine lebenspraktische Option zu sein. Das ist auch durchaus nachvollziehbar. Im Klinikbett liegend, an Schläuchen hängend mit einer ungewissen diagnostischen Prognose minimieren sich plötzlich die lebenspraktischen Möglichkeiten. Und sie können natürlich nicht durch rein denkerische Möglichkeiten ersetzte werden.
Das ist lebensfremd. Aber auch in einer solchen Situation lebensnah ist es, die gegebenen lebenspraktischen Möglichkeiten zu durchdenken und optionale Entscheidungen vorzubereiten. Das ermöglicht Selbstbestimmung und sichert vor allzu schneller und umfassender Fremdbestimmung.
Dabei soll und darf nichts verdrängt werden. Wir können uns dem Geschehen eben nicht dadurch entziehen, dass wir einfach dekretieren, der Tod sei keine Option. Nein, er ist die einzig sichere Option, die wir haben.
Von dieser Option her Selbstbestimmung zu denken, bedeutet dann aber, sich gegenüber der Tumorerkrankung aufgeklärt zu verhalten. Die Bedeutung meiner Entscheidung für das Leben erfolgt immer in der Zeit. Sie ist dann eine Entscheidung für die Freiheit, wenn ich im Wissen um diese Zeitlichkeit für das tätige Leben mich entscheide. Im Anfang war das Wort, und das Wort muss zur Tat werden. Nur so ist schöpferisches Dasein möglich.
Ich schaffe mit meiner Entscheidung das mir gegebene Leben. Der Irrtum der Existenzialisten bestand eben darin, bei der Geworfenheit stehen zu bleiben. Auch Camus ist trotz seiner Sisyphos-Adaption über die Kränkung des Geworfenseins nicht hinausgekommen.
Geworfensein und Tod hängen zusammen. Denn ich bin als leistende Subjektivität endliches Subjekt. Aber ich bin nur solange Subjekt, wie ich Bewusstseinsvollzüge in intersubjektiver Verwobenheit als schöpferischen Akt vollziehe.
Lasse ich mich durch eine anzuerkennende Verengung meiner lebenspraktischen Möglichkeiten aber so weit in diesen schöpferischen Akten reduzieren, dass sie nur noch im Horizont der Erkrankung vorgenommen werden können, gebe ich meine Selbstbestimmung in den intersubjektiv verwobenen Lebenszusammenhängen auf.
Mit anderen Worten: Ich lasse mich fremdbestimmen vom Tumor und insgesamt von meiner Erkrankung. Zu erkennen, dass diese Erkrankung, zwar lebenspraktische Möglichkeiten verwehren, aber mich als leistende Subjektivität nicht ausschalten kann, ist der Anfang eines schwierigen Denkens, um damit umgehen zu können.
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