S21 wird noch einmal teurer. Aus dem Anlass poste ich meinen Beitrag aus dem Juli 2011 über die Computersimulation zur Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs. Anlässlich der Recherchen zu diesem Artikel ist mir vor immerhin sechs Jahren klar geworden, wie unseriös Politik und Deutsche Bahn hier argumentiert haben. Das Schlimme dabei: Die sind ja seitdem nicht ehrlicher geworden. Es ist so unglaublich.
Der Beitrag aus dem Juli 2011:
In einem Punkt sind sich Verkehrswissenschaftler und Experten für Computersimulationen hier einig: Die Ergebnisse sind so aussagekräftig wie die zugrunde liegenden Modelle und Betriebsprogramme. Für den sogenannten „Stresstest Stuttgart 21“ ist dabei das Schienennetz in der Region Stuttgart und das Gleisnetz nach den aktuellen Planungen für den Tiefbahnhof modelliert worden.
Dabei wird sozusagen eine Modelleisenbahnanlage im Computer nachgebaut, die aus lauter Gleichungssystemen besteht. Gute Vorarbeiten dafür haben die Wissenschaftler des Verkehrswissenschaftlichen Instituts der Universität Stuttgart um Professor Ullrich Martin bereits im Jahr 2005 geleistet, als sie die beiden Bahnhofsvarianten „Kopfbahnhof“ und „Durchgangsbahnhof“ auf ihre Leistungsfähigkeiten untersucht haben.
Auf der Grundlage der modellierten Infrastruktur sind dann bei diesem „Stresstest“ zwei Simulationen mit mehreren Simulationsläufen durchgeführt worden, deren Ergebnisse noch nicht veröffentlicht waren, als dieser Artikel entstanden ist. Simuliert werden bei solchen Stresstest standardmäßig eine Fahrplan und mehrere Betriebsabläufe mit unterschiedlichen Störungsszenarien.
Die Fahrplansimulation ist dabei die Grundlage für die Betriebssimulation. Und bei diesen Simulationsläufen wird es dann sehr spannend. Denn hier wird berechnet, was passiert, wenn alle Züge auf den zur Verfügung stehenden Gleisen pünktlich sind, wenn ein oder mehrere Gleise nicht befahren werden können oder wenn erwartete Züge sich durch außerhalb der modellierten Infrastruktur liegende Ursachen verspäten.
Für den Stuttgarter Stresstest hat die Deutsche Bahn AG diese Simulationen mit einer Software namens Railsys durchgeführt, die als Standardwerkzeug für Eisenbahn-Betriebssimulationen gilt und von einer niedersächsischen Softwareschmiede namens RmCon entwickelt und gewartet wird.
Bei der Simulation gehen die Entwickler davon aus, dass jeweils die Leistungsfähigkeit eines Teilnetzes berechnet werden soll. Diese Teilnetze können im Laufe der Simulation auch vergrößert werden. So kann zum Beispiel zunächst der reine Haltestellenbereich mit seinem vor- und nachgelagerten Gleisfeld untersucht werden, danach aber auch ein weiteres Teilnetz, wie zum Beispiel das Schienenetz vom Stuttgarter Hauptbahnhof bis zum Haltepunkt Stuttgart-Zuffenhausen.
Im Laufe der Betriebssimulation wird die Anzahl der Züge auf dem zu untersuchenden Teilnetz kontinuierlich gesteigert. Die Zeiteinheiten können dabei beliebig gewählt und sogar vom Stundentakt auf Minuten heruntergebrochen werden. Hierbei kommt das Betriebsprogramm mit ins Spiel.
Dieses Betriebsprogramm legt fest, welche Zugtypen mit welcher Lokbespannung und mit wie vielen Waggons in das Teilnetz ein- und wieder ausfahren. Das Betriebsprogramm bestimmt, wie lang die fahrplanmäßige Soll-Fahrzeit auf bestimmten Strecken oder ein Haltestellenaufenthalt ist und wie häufig welche Züge auf welchen Strecken verkehren. Bei den Vorgaben wird in der Modellierung der Musterzüge unter anderem definiert, wie schnell jeder Testzug beschleunigen und bremsen kann und wie lang sogenannte „Umrüstzeiten“ sind, die unter Umständen zusätzlich zu den definierten Zeiten der Haltestellenaufenthalte anfallen.
Das Simulationsprogramm ermittelt dann einfach die Fahr- und Wartezeiten für jeden einzelnen Zug, der im Betriebsprogramm definiert wurde. Dabei gilt die Spielregel, dass ein Zug, der in einen Gleisabschnitt einfahren will, solange warten muss, wie dieser Gleisabschnitt belegt ist. Das klingt trivial, sorgt aber im tatsächlichen Betriebsablauf für so manches komplexe Problem. Denn alle Betriebsstörungen lassen sich als belegte Gleise abbilden. Und dieser Zustand führt dann zu Wartezeiten.
Am Ende eines solchen Simulationslaufs hat die Simulationssoftware dann ganz profan zwei Zahlenwerte ermittelt. Der erste Zahlenwert gibt die Wartezeiten eines Zuges an, die sich unter Umständen bei mehreren Störungen erheblich aufaddieren können. Der zweite Zahlenwert heißt Belastungswert und gibt an, wie viele Züge im untersuchten Teilnetz während eines bestimmten Zeitabschnitts abgefertigt werden können.
Beim Stresstest zu Stuttgart 21 lautete die Vorgabe, dass geprüft werden sollte, ob 49 Zugankünfte in der Zeit von 7:00 Uhr bis 8:00 Uhr in Stuttgart Hauptbahnhof möglich sind. Für eine derartige Simulation werden unterschiedlich lange Verspätungen der einfahrenden Züge (sog. „Einbruchverspätungen“) und Haltzeitenverlängerungen als zusätzliche Berechnungsparameter eingegeben. Auch dabei handelt es sich wieder um Zahlungspaare, die die Simulationssoftware gemäß dem in einem Gleichungssystem abgebildeten Infrastrukturmodell durchrechnet. So steht etwa das Zahlenpaar „0,5/5,0“ für die Annahme, dass die Hälfte der einfahrenden Züge (0,5 =50 Prozent) eine Verspätung von fünf Minuten aufweisen.
Für gewöhnlich werden bei Eisenbahnsimulationen diese Zahlenpaar für jeden Zugtyp extra vergeben und in unterschiedlichen Kombinationen durchgerechnet. Auch bei den Haltzeitenverlängerungen wird mit solchen Zahlenpaaren gearbeitet. Entscheidend ist dabei, ob die angenommenen und durchgerechneten Verspätungen und Wartezeiten an den Bahnsteigen tatsächlich der Betriebswirklichkeit entsprechen oder nicht.
Deshalb ist es so wichtig, dass alle Berechnungsparameter und Eingabewerte bei der Ergebnispräsentation solcher Computersimulationen offen gelegt werden, damit überprüft werden kann, unter welchen Simulationsbedingungen bestimmte Schwierigkeiten aufgetreten oder ausgeblieben sind. Dabei kommt es ganz entschieden auf den Simulationsmix bei den Eingabewerten an. Ganz unterschiedliche Verspätungszeiten der verschiedenen Zugtypen mit unterschiedlichen Zugzahlen lassen erst seriöse Aussagen zum Leistungsverhalten eiens bestimmten Teilnetzes möglich werden.
Alle Eingabewerte und Simulationsparameter zu überprüfen ist eine ausgesprochen zeitraubende Aufgabe. Im Falle des Stresstest zu Stuttgart 21 ist die Computersimulation selbst von der Deutschen Bahn AG durchgeführt worden. Das Züricher Ingenieurbüro SMA hat den Auftrag erhalten, die Aussagekraft der Simulationsergebnisse zu überprüfen, was die Prüfung aller Eingabewerte und Simulationsparameter voraussetzt.
Bereits vor der Veröffentlichung der Berechnungsergebnisse des Stresstests zu Stuttgart 21 war den beteiligten Simulationsexperten klar, dass mit dieser Computersimulation lediglich gestestet wird, ob ein Fahrplan mit 49 Zughalten in der morgendlichen Hauptverkehrszeit eingehalten werden kann. Bei dieser Computersimulation ist nicht berechnet worden, welche Leistungsfähigkeit der geplante Stuttgarter Durchgangsbahnhof erreichen kann. Nach den vorliegenden Simulationsparametern können auch nur sehr bedingt Aussagen zu Infrastrukturoptionen getroffen werden, weil die Simulationsparameter nur fünf Infrastrukturoptionen berücksichtigt haben. So ist zum Beispiel ein weiterer Ausbau der Gleisinfrastruktur zum Flughafen Stuttgart nach den hier vorliegenden Modell-Gleichungen nicht modelliert worden.
Der politische Streit um Stuttgart 21 geht über die Aussagekraft der durchgerechneten Simulationen weit hinaus. Das scheint nicht allen an dieser Diskussion Beteiligten klar zu sein. Deshalb überlegen die Entwickler von Simulationssoftware auch, ob der Einsatz verbesserter Visualisierungswerkzeuge hier zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen könnte. Beim durchgeführten Stresstest für Stuttgart 21 sind Gleisbelegungen und Zugfolgen visualisiert worden. Einige Simulationsexperten denken hier sogar über ein Visualisierungspaket nach, mit dem man aufgrund der berechneten Wartezeiten und Belastungswerte die Züge eines Teilabschnitts auf einem Bildschirm tatsächlich wie bei einer Modelleisenbahn gemäß der Berechnungen in Echtzeit fahren und stehen lassen kann – je nach Betriebsprogramm und eingepflegten Störungsszenarien.
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