Heideggers radikale Abkehre vom paulinischen Todesverständnishat zum Konzept des Vorlaufens in den Tod geführt. Heidegger bleibt in dieser Abkehre bei der Diskriminierung des Todes, die auch bei Paulus immer wieder durchscheint. Den Tod zu diskriminieren, das hat aber gerade dazu geführt, dass die Menschen ihn verdrängen. Wir leben ja in einer Gesellschaft, die den Tod zu einer Angelegenheit von Spezialisten gemacht hat und damit aus unserem Bewusstsein verdrängt hat.
Die Dialektik von Tod und Leben muss dabei auf der Strecke bleiben. Wir leben in der Verdrängung des Todes auch in einer Verdrängung von Endlichkeit. Das hat tiefreichende gesellschaftliche und auch ökonomische Konsequenzen. Den Mangel als ökonomisches Prinzip können wir noch denken, Endlichkeit als auch ökonomisches – und natürlich zuvörderst als gesellschaftliches – Prinzip weigenr wir uns zu denken, weil wir den Tod verdrängt haben. Dabei ist Knappheit nur eine perspektivisch verkürzte Form von Endlichkeit. Aber da dürfen wir dann nicht mehr weiterdenken. Hier haben wir es mit einem Denkverbot zu tun, das die christliche Tradition aus dem Platonismus übernommen hat. Vernunft als das Ewige darf nicht endlich sein. Der Mensch als vernünftiges Wesen hat Anteil an der Unendlichkeit der Vernunft, also darf er nicht nur in seiner Endlichkeit gesehen werden, sondern muss immer als Teilhaber an der Unendlichkeit der Vernunft verstanden werden.
Als Teilhaber an der Unendlichkeit der Vernunft dürfen wir aber unseren Tod verdrängen, müssen es sogar, weil wir dann besser funktionieren. Doch ohne die Dialektik von Tod und Leben aufzuarbeiten können wir auch nicht Leiblichkeit, Individualität und geschichtlich gewordene Persönlichkeit bedenken. Diese Dialektik von Tod und Leben hat Husserl in seiner Erörterung der phänomenologischen Grenzprobleme immerhin wahrgenommen. Er hat sich dann aber nicht so richtig getraut, sie weiterzudenken.
Denn diese Dialektik führt uns zu einer Kultur der Endlichkeit – mit allen Konsequenzen. Leben auf den Tod hin und das Bedenken des Lebens vom Tode her, erlaubt uns, Individualität, Leiblichkeit und Sozialität in einen neuen Blick zu nehmen.
Wir leben in einer maßlosen Gesellschaft, die stets nach Optimierung und Mehrwert strebt. Damit leugnet sie Endlichkeit und ihren bestimmenden Wert für unser Leben. Unsere Wirtschaftsstruktur ist auf maßloses Wachstum ausgelegt. Und wir stoßen damit an Grenzen. Weder die totale Optimierung einer grenzenlos wachsenden Wirtschaft noch die ziellose persönliche Optimierung um der Optimierung willen kann uns Halt geben. Denn die maßlose Gesellschaft ist auch immer die wertlose Gesellschaft, die Gesellschaft ohne Werte. Das hat uns in die gegenwärtige Krise getrieben.
Der Neoliberalismus ist eine zutiefst inhumane Denkrichtung und Ideologie. Denn er will den Tod durch grenzenloses Wachstum überwinden und verschwendet dabei die eben doch endlichen Ressourcen. So gesehen muss der Neoliberalismus als moderne Heilslehre verstanden werden, die den Menschen Unendlichkeit, zumindest unendliches Wachstum verspricht. Das entfremdet Menschen und entfernt sie von humanen Werten.
Individualität, Leiblichkeit und Sozialität können nur in einer Kultur der Endlichkeit sinnvoll gelebt werden. In dieser Kultur der Endlichkeit lassen sich dann auch die alten Werte der französischen Revolution wieder begründen. Freiheit als Freiheit der Entscheidung, die angesichts des Todes immer eine Entscheidung auf Freiheit und Tod ist (Arnold Metzger). Die Gleichheit der endlichen Wesen, die der Tod vorgibt. Die Geschwisterlichkeit, die erst unseren Willen zum Leben Wirklichkeit werden lässt, ohne die dieser Lebenswille sich nicht verwirklichen könnte, weil das vereinzelte Leben jedes Maß verliert.
Diese Kultur der Endlichkeit ist auch eine Kultur der Nachhaltigkeit, eine Kultur der Achtsamkeit, die den Wert eines jeden Augenblicks, den Wert jeder Entscheidung als individuellen und gemeinschaftlichen Wert begründen kann.
Die Krise der europäischen Kultur ist eine Krise der Orientierung, der Haltungen und der Werte. Verursacht worden ist diese Krise durch Maßlosigkeit. Es handelt sich dabei um dieselbe Maßlosigkeit, die das neoliberale Ziel grenzenlosen Wachstums als innere Triebfeder zum höchsten gesellschaftlichen Wert machen will. Diese Maßlosigkeit ist inhuman, weil die menschlichen Werte des Humanen auf der Strecke bleiben.
Wer grenzenlos wachsen will, negiert die Freiheit des Anderen. Wer grenzenlos wachsen will, muss für Abgrenzung als Voraussetzung weiteren Wachstums sorgen und ist deshalb ein Gegner des Wertes der Gleichheit. Wer grenzenlos wachsen will, kann nur noch in Konkurrenzkategorien denken, die jeder Kollegialität, Solidarität und Geschwisterlichkeit entgegen stehen.
Dem müssen wir mit einer Kultur der Endlichkeit entgegentreten. Denn das neoliberale Paradigma grenzenlosen Wachstums hat genauso abgewirtschaftet wie das Paradigma der totalen Vergesellschaftung, die Endlichkeit letztlich mit dem hegelschen Weltgeist leugnen will und deshalb die Vernunft als Klassenbewusstsein in die Sphäre der Unendlichkeit erhebt.
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Theresia Liebs (Samstag, 20 August 2016 14:34)
Danke für diesen Beitrag! Er lässt mich nachdenklich zurück.