Das Ende der Verdrossenheit und der Anfang der Transparenz
Eine Analyse der und politische Lehren aus der Politikerverdrossenheit in Pattonville als Modellfall bundesrepublikanischer Verhältnisse
Sinkende Wahlbeteiligungen sind ein bundesweites Phänomen. Und bei einer Oberbürgermeisterwahl in einem provinziellen Flecken dieser Republik kann eine Wahlbeteiligung von insgesamt ungefähr einem Drittel keinem politischen Analysten mehr ein Stirnrunzeln entlocken, zumal die üblichen in der Forschungsliteratur benannten Parameter hier sämtlich und in verschärfter Form zutreffen.[1] Doch die in meinem Heimatdorfteil Pattonville festgestellte Wahlbeteiligung bei der OB-Wahl 2014 von nur acht Prozent (Wahllokal Grundschule Pattonville) darf wohl als ernstes Signal gelten und sollte Anlass für eine Analyse sein.
Die nachträglich in vielen Gesprächen erhobenen Einschätzungen sehr unterschiedlicher Bürger dürfen zwar nicht als repräsentative Meinungsumfrage missverstanden werden, geben aber auf Grund ihrer einheitlichen Tendenzaussage einen guten Anhaltspunkt für eine phänomenologisch-lebensweltliche Analyse, die strukturell auf den sich verändernden Demokratiebegriff hin bezogen werden und somit über eine wichtige begriffsgeschichtlich-gesellschaftliche Entwicklung Aufschluss geben kann.
Da ist zum Beispiel der pensionierte frühere Angestellte eines Kreditinstituts. Er ist politisch durchaus interessiert, verfolgt die kommunalen Geschehnisse mit wachem Blick und hat bei der OB-Wahl nachdrücklich dazu aufgefordert, sich als Zeichen des Protestes der Wahl zu enthalten. „Aufruf zum Wahlboykott“ nannte das ein Achtzehnjähriger Auszubildender. Auch er beschränkt seine protestartigen Kundgebungen auf seinen engeren Bekanntenkreis. Das tut auch der Mittfünfziger, Eigenheim-Besitzer, saturiert, politisch wenig interessiert, dem es reicht angesichts der sich stetig verschlechternden Wohnsituation in seinem Stadtteil. Die 60jährige Hausfrau sieht das ähnlich und hat in ihrem Bekanntenkreis bewusst dafür geworben, der OB-Wahl fern zu bleiben. Begründung: Es kommen danach andere Schweine an den Trog, aber sie benehmen sich wie die Schweine vor ihnen“. Gespräche mit 25 Pattonviller Bürgern sind zwar keine repräsentative Meinungserhebung, aber sie liefern für eine politisch-strukturale Analyse hilfreiches Material.
Daraus sind in phänomenologisch-reduktiver Ableitung drei Thesen entstanden.
Die in den Berichten und Einschätzungen der Bürger zu Tage getretenen Narrative lassen sich am ehesten mit dem analytischen Rüstzeug von Ulrich Beck beschreiben und einordnen.[2] Ordnungsfragen können nicht mehr diskutiert werden, weil die diesbezügliche Debatte einer Placebo-Politik gewichen ist.
Der Gemeinderat wird nicht mehr als politische Institution wahrgenommen, sondern als eine von vielen „Zombie-Institutionen, die historisch längst tot sind, aber doch nicht sterben können“.[3] Der Bürger hat die eigene Machtlosigkeit gegenüber Amtsinhabern erfahren, die „dem dummen Bürger“[4] politische Kompetenz ohnehin nicht zutrauen und ihn deshalb von vornherein von der Willensbildung ausschließen, auch wenn dies nur mit der Lüge und Unwahrheit als politisch-taktischem Mittel gelingt.
Amtsinhaber und Mandatsträger werden als politische Akteure nicht mehr ernst genommen. Warum soll man sie dann wählen? Wie kann man ihnen die eigene Verachtung besser zeigen als durch Wahlboykott?
So lässt sich diese Amtsführung in analytischen Kategorien am ehesten als eine amoralische Antipolitik beschreiben. Schedler hat Antipolitik als „Kolonisierung“ der kommunikativen Rationalität von Politik durch einseitige Formen von Rationalität beschrieben. Eine amoralische Antipolitik ist nach Schedler die Konzeption, die von Politik als einem mehr oder weniger dubiosen Platz der Handlung ausgeht, auf dem die Amtsinhaber und Mandatsträger nur ihren persönlichen Nutzen maximieren wollen.[9]
Wir haben es hier also mit Amtsinhabern zu tun, deren Handlungen und deren politische Strategie vom Bürger als Handlungsweise erfahren wird, mit der sich gewählte Amtsinhaber unmittelbar persönliche Vorteile verschaffen wollen, verschaffen und verschafft haben. Wozu sollen diese amoralischen Antipolitiker gewählt werden? Warum soll ihre Schnäppchenjägermentalität durch eine Wahl legitimiert werden?
Die Konsequenz aus diesen lebensweltlichen Einschätzungen:
Demokratie wird nicht mehr als Konzeption der Regierungsform gesehen, sondern als sich selbst aufzuerlegende Handlungsweise, die ihre Legitimität und ihr Potenzial erst dadurch erhält, dass sie gegen die Amtsinhaber und die durch die vertretene herrschende Ordnung agiert.[10]
Der zivilgesellschaftliche Protest kann dann nach vielen Frustrationen nur noch in Wahlverweigerung geäußert werden. Denn durch die Wahlverweigerung will der so Agierende deutlich machen, dass Amtsinhaber keine Legitimität mehr in Anspruch nehmen können.
Der Demokratiebegriff ändert sich dadurch auf breiter Front. Demokratie muss mit der strukturkonservativen Institutionenethik brechen. Demokratie muss wieder zu einem Kampfbegriff werden.
So erhält der Demokratiebegriff wieder eine Dynamik, und von dieser Dynamik beziehen die Agierenden ihre Motivation für den Wahlboykott. Demokratie muss der vernetzten Inkompetenz der Amtsinhaber entgegen gesetzt werden.[11]
Das durch die Amtsinhaber missachtete Prinzip der Volkssouveranität erhält so eine neue Aktualität. Die Volkssouveranität setzt den dekonstruktiven Diskurs über die herrschende Institutionenethik voraus. Der Institutionenethik wird eine Individualethik entgegen gesetzt. Demokratie als Versprechen wird wieder attraktiv.
Doch diese Demokratie muss ein Gegenentwurf zur Missachtung, Ungerechtigkeit und Unfreiheit schaffenden Politik der Eliten sein.[12] Demokratie als performativer Akt gegen Bürokraten und Amtsinhaber kann eine enorm befreiende Wirkung haben.
Aus der Wahlverweigerung als Konstitution des Politischen gegen die nur noch formal legitimierte Herrschaftsausübung der elitären Amtsinhaber wird so ein erster Schritt hin zu einem neuen Demokratiemodell. Aus der Wahlverweigerung wird eine Bekenntnisverweigerung.
Wahlen als Legitimationsinstrument sind abgeschafft, weil man sich der Wahl und damit dem Legitimationsinstrument verweigert hat. Für die Bürger in Pattonville gilt, was Dirk Jörke für einen beachtlichen Teil der Bürger dieser Republik insgesamt feststellt: Sie haben sehr gute „Gründe , dieses Bekenntnis zu verweigern. Denn sie machen die Erfahrung, von der ‚demokratischen’ Gesellschaft und ihren Eliten nicht mehr hinreichend anerkannt zu werden“.[13]
Der neue Demokratiebegriff muss deshalb auch dauerhaft vom performativen Akt gegen die Amtsinhaber zu einem Akt der Konstitution des Politischen und Begründung der Volkssouveranität werden. Der Akt der Konstitution sittlicher Würde als Würde des Einzelnen, der immer auch Souverän ist, erinnert stark an Politikkonzeptionen liberaler Provenienz.
Doch von diesen Konzeptionen sind die Agierenden enttäuscht. Das bisherige Repräsentationsmodell eignet sich nicht mehr, weil es die politische Freiheit der Bürger immer stärker eingeengt hat. Einer der am stärksten wahrgenommenen Gründe dafür: Die Amtsinhaber haben dem Gemeinwesen nicht gedient, sondern ihre persönliche Machtabsicherung sowie ihre kleinlichen persönlichen Vorteile gesucht - Schnäppchenjäger des alten demokratischen Systems eben. Und genau dieses System hat sich überlebt.
Auch in Pattoville bezeichnen sich die so Enttäuschten als Wutbürger und Empörte, die allenfalls noch Hoffnung sehen, wenn das bisherige Repräsentationsmodell schnellstens abgeschaft wird zugunsten einer direkten Demokratie.[14]
Das Volk als politisches Subjekt ist von den Amtsinhabern nicht mehr als Subjekt einer demokratischen Gestaltung der Herrschaftsform anerkannt und muss sich deshalb „als Subjekt einer unmittelbaren konstituierenden Macht begreifen, die durch die Verweigerung der bloss formelhaften Bekenntnis von Wahlen als Legitimationsgrundlage den ersten Schritt zur Konstitution eines „Subjekts des Aufstandes“ macht.[15]
Darin kann eine Chance liegen, die wir aber nur nutzen können, wenn wir es schaffen, auf kommunaler Ebene den Diskurs auf Augenhöhe über genau dieses Unbehagen an den herrschenden Verhältnissen herzustellen. Das ist eine Aufgabe, der sich der neu gewählte Amtsinhaber stellen muss.
Eine schwierig zu meisternde Aufgabe, denn sein Vorgänger hat hier mit Hybris angefüllte Strukturen hinterlassen und aus einer illusionär angenommenen Würde des Amtes Besitz- und Machtansprüche. Das war zwar keine politische Strategie, sondern nur intellektuelles Unvermögen. Aber die Diskurstrukturen sind dadurch natürlich über 16 Jahre geprägt worden. Und diese Strukturen sowie das von den Bürgern teilweise wirklich hautnah erlebte sehr weitgehende Verwaltungsversagen mit den sich daran anschließenden Versuchen der Amtsinhaber, die „Wahrheit unter der Decke zuhalten“, wie mehrere Pattonviller Bürger dieses Geschehen übereinstimmend kommentierten, haben die Wahlverweigerung als bewusste politische Entscheidung motiviert.
Mit Verweigerungen dieser Art, aber auch mit einem Abschied von der Demokratie durch korrupte, unfähige oder nur formal und somit inhaltsleer argumentierende Amtsinhaber sind wir in dieser Republik auf allen Ebenen konfrontiert. Es gibt also viel zu tun und das Gebot der Stunde lautet: Transparenz!
[1] Diese sind zum Beispiel das Gefühl, mit einer Wahl doch nichts bewirken zu können, eine breite Ablehnung kommunaler Eliten, oder das Gefühl, keine wirkliche Wahl unter ideologisch gleichgerichteten oder sogar weitgehend unpolitischen Kandidaten zu haben oder auch tiefsitzende Enttäuschung über „bad governance“ des bisherigen Amtsinhabers, der zwar nicht mehr zur Wahl steht, aber die Strukturen so nachhaltig geprägt hat, dass sich Teile der Bevölkerung von der Willensbildung ausgeschlossen, durch juristische und/oder politische Tricks abgedrängt und hinters Licht geführt fühlen; vgl.: Münkler, Herfried: Regierungsversagen, Staatsversagen und die Krise der Demokratie, in: Berliner Republik, Heft 5 (2010) Seite 49-55
[2] Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung (Frankfurt am Main 199)
[3] Beck a.a.O, Seite 217
[4] So die beeindruckende Aussage des scheidenden Amtsinhabers im Laufe eines längeren Hintergrundgespräches mit dem Autor im Beisein der Rechtsanwälte Prof. Kitzberger und Weisenburger am 26. Juni 2014.
[5] Beck a.a.O. Seite 242
[6] Wenn Experten wie der für Pattonvilles städteplanerisches Konzept verantwortliche Architekt Prof. Schwinge eine durch massiven Bürgerprotest erzwungene öffentliche Veranstaltung zur Diskussion der zahlreichen städtebaulichen Sünden zu beenden versucht, indem er den –teilweise überaus kritisch - anfragenden Bürgern mit rechtlichen Schritten droht, statt Fragen nach dem städtebaulichen Konzept und etwaigen Fehlern bei der Umsetzung zu beantworten, ist dieser Kompetenzverlust auch für den wohlmeinendsten Bürger manifest geworden. Die Veranstaltung wurde als üble Alibi-Veranstaltung abgehakt. Wahlboykott scheint dann der letzte Ausweg zu sein.
[7] Mail-Affäre im Rathaus, vgl. z.B. Laibacher, Ludwig: Private E-Mails sind ein Kündigungsgrund. Wegen der Entlassung eines Abteilungsleiters geht die Angst um, Rathausmitarbeiter fühlen sich bespitzelt, in Stuttgarter Zeitung vom 23.06.2009; Finanzaffäre in Pattonville, vgl. z.B. Waldner, Werner: Die Buchhaltung war sehr chaotisch, in: Kornwestheimer Zeitung vom 15.05.2012; Bücherverbotsaffäre um Krimi eines örtlichen Gymnasiallehrers, vgl.: z.B. Mayer-Grum, Gaby: Dem Bürgerverein einen Bärendienst erweisen, in Kornwestheiemr Zeitung vom 25.11.2006; Abwasser-Gebührenaffäre, bei der bei bestimmten Handelnden mit einer gewissen Nähe zum Amtsinhaber Gebühren nicht eingezogen wurden, vg. z.B.: Waldner, Werner: Expertenrat nicht befolgt, in: Kornwestheimer-Zeitung vom 22.06.2012. Diese kleine Liste von Beispielen kann um weitere erweitert werden, aber auch die angeführten Beispiele lassen die Struktur deutlich wedren.
[8] Vg. Schedler, Andreas: Introduction: Antipolitics –closing and colonizing the public sphere, in: Ders. (Hg.): The End of Politics? Explorations into Modern Antipolitics (London 1997) 1-20.
[9] Schedler a.a.O., Seite 13-14
[10] Vgl.: Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik (Zürich 2008), insbesondere Seite 19ff.
[11] Hier hilft die an die phänomenologische Tradition mit ihrer Reduktionsmethode anknüpfende strukturreduzierende Analyse von Jacques Derrida weiter.
[12] Vgl. Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft (Frankfurt am Main 2000)
[13] Jörke, Dirk: Demokratie als Ideologie, in: Otten, Henrique Ricardo; Sicking, Manfred (Hg.): Kritik und Leidenschaft. Vom Ursprung mit politischen Ideen (Bielefeld 2011) Seite 178
[14] Vgl. die ungemein aufshlussreiche Analyse von Pitkin, Hanna: Representation and democracy: uneasy alliance, in: Scandinavian Political Studies 27 (2004) Seite 335 bis 343
[15] Vgl. Abensour, Miguel: Demokratie gegen den Staat (Berlin 2012) Seite 220
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