Das Selbstverständliche ist das Undenkbare – und über das Undenkbare müssen wir schreiben
Meinem Freund Karl Geibel zum siebzigsten Geburtstag
Die Leidenschaft für die aufklärende und aufklärerische Arbeit von Journalisten hat bei vielen Kolleginnen und Kollegen Karl Geibel immer wieder aufs Neue entfacht. Mutlosigkeit am Anfang einer investigativen Recherche oder beim Aufschlagen auf den unvermeidlichen Nullpunkt im Laufe der Recherchearbeiten konnte und kann er noch immer im Laufe eines langen Gesprächs in den unbedingten Willen zur Wahrheit verwandeln.
Viele wichtige Themen, Beiträge, Artikel und Sendungen hätte ich ohne Geibelsche Eingriffe nicht fertig bekommen. Mich hätte zuvor in einigen Fällen der Mut verlassen, in anderen Fällen hätte mich die Kompromissbereitschaft eingeholt, und bisweilen hätte ich vor den Anforderungen der Recherche wohl kapituliert.
Klar, dass ich mich gefragt habe: Wie hat dieser Karl Geibel es immer wieder geschafft, mich so anzutreiben, mich wieder und wieder auf ein Thema, auf eine Geschichte zu verpflichten? Besonders nett hat er seine Argumente eigentlich nie vorgebracht. Daran kann es also nicht liegen. Ruppig hat er mich das eine oder andere Mal wissen lassen, welche Konsequenzen er meiner Stelle jetzt – ethisch wohl abgeleitet und begründet – ziehen würde. Wo liegt also die Faszination der Geibelschen Argumente, die eine so zwingende Wirkung entfalten?
Der Antwort, die ich auf diese Frage gefunden habe, habe ich zunächst misstraut. Aber diese Antwort hat sich als die zutreffende erwiesen. Sie lautet: Karl Geibel ist ein Graswurzel-Journalist, der dazu anleitet, mitunter verleitet, manchmal dazu zwingt, das Selbstverständliche zum Gegenstand journalistischen Nachdenkens zu machen. Und das macht ihn und seine Argumentation so unwiderstehlich.
Karl Geibels journalistische Basis ist die alltägliche Erfahrung der Menschen in den Städten, Dörfern, in der Provinz. „Viele Provinzen ergeben ein Land“, hat Geibel erklärt. Und über und für diese alltägliche Erfahrung müssen wir schreiben, wenn wir aufklären wollen. Damit wir über und für diese alltägliche Erfahrung schreiben können, müssen wir den Zusammenhang des Erfahrbaren beschreiben. Das ist selbstverständlich, und das ist das Selbstverständliche.
Aber dieses Selbstverständliche ist lebensweltlich gesehen das Undenkbare. Menschen leben in der Selbstverständlichkeit des Alltäglichen. Weil wir darin regelrecht verwoben sind, können wir darüber nicht nachdenken. Deshalb ist dieses Selbstverständliche einerseits das Undenkbare, weil es von uns in unserer natürlichen alltäglichen Einstellung nicht bedacht werden kann.
Andererseits müssen wir diese Selbstverständlichkeit in den Blick nehmen, um über das Alltägliche schreiben, um die alltäglichen Entscheidungen und Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Technik und Kultur einordnen zu können.
Bildlich gesprochen, müssen wir unter die Graswurzel schauen, um das Geflecht von Interessen, Tendenzen und Entwicklungen erkennen zu können, über das wir dann anschließend mit Leidenschaft für die Wahrheit schreiben müssen. Doch um unter die Graswurzel schauen zu können, müssen wir die Graswurzel verlassen, ein Stück neben sie treten.
Mit anderen Worten: das Selbstverständliche, das wir unter der Graswurzel erkennen, ist das Undenkbare. Denn das Selbstverständliche verschwindet in der natürlichen Einstellung des Alltags.
Journalistische Aufklärung muss diese natürliche Einstellung thematisieren und auch kritisieren. Dann können wir Nachrichten, Meinungen und Hintergründe erkennen und einordnen. Doch keine Meinung, kein Interesse, kein Faktum, keine Aussage und keine Tendenz ist isoliert gegeben. Sie sind immer in einem Zusammenhang gegeben, und dieser Zusammenhang ist selbstverständlich vorausgesetzt und deshalb nie im Blick.
Über diese Selbstverständlichkeit müssen wir als der Aufklärung verpflichtete Journalisten nachdenken, sie einordnen, kritisieren und sie für unsere Leser, Hörer und Zuschauer darstellen. Zugleich stecken wir schon immer so in der Selbstverständlichkeit dieser natürlichen und alltäglichen Einstellung, dass wir völlig vergessen, mit welcher Selbstverständlichkeit wir jeden Tag in unserer Lebenswelt agieren und unterwegs sind.
Deshalb setzt journalistische Aufklärung erst dort an, wo wir hinter diese Selbstverständlichkeit zurücktreten, quasi aus ihr heraustreten und sie thematisieren. Dann erkennen wir die Strukturen der Gegenstände unserer Berichterstattung und können sie beschreiben, kritisieren oder beklagen.
Karl Geibel fordert im Gespräch immer wieder genau dazu heraus: Die Struktur des Selbstverständlichen in den Blick zu nehmen, weil erst dann kritische Berichterstattung beginnen kann. Das macht ihn und seine Argumente so überzeugend, obschon er sie manchmal mit einer gewissen Widerständigkeit vorträgt. Diese Widerständigkeit entspricht aber genau dem Selbstverständlichen, fordert uns also dazu heraus, sie in Frage zu stellen, zu prüfen und zu wägen.
Ich habe einige Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, warum Karl Geibel immer das Undenkbare denken will, und das auch noch als programmatische Losung ausgibt. Er will dies, weil das erst den Ausgangspunkt des politischen Journalismus bildet, gewissermaßen seine Möglichkeitsbedingung. Und aller Journalismus ist politisch, aber er wird dann politisch besonders wirksam und brisant, wenn er die Zusammenhänge des alltäglich Erfahrbaren in den Blick nimmt. Dieser Aufgabe kann sich kein Journalist entziehen, weil sie jeden Tag aufs Neue so apodiktisch erfahren wird. Warum sie so apodiktisch ist, das kann man dann beim Graswurzel-Journalisten Karl Geibel ganz genau studieren, diesem unwiderstehlichen und doch so widerständigen Kerl!
Dir, Karl, alle selbstverständlichen, denkbaren und ungedachten Wünsche zum Geburtstag!
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