In den politischen Diskussionen unserer Tage fallen zwei Tendenzen immer wieder auf: die reaktionäre Flucht in die Unmündigkeit und das Ausblenden der ethischen Dimension politischen Handelns. Zum
einen sehnen sich nicht wenige Menschen zurück in ein noch nicht aufgeklärtes Zeitalter, weil die für die damalige Zeit unterstellten festen Bindungen und die nicht in Frage zu stellende
hierarchische gesellschaftliche Struktur angeblich für eine wesentlich reduzierte Wahrnehmung von Komplexität sorgten. Wenn fest vorgegeben ist, was man zu denken hat und wie man zu denken hat, darf
man sich des mitunter mühseligen Geschäftes der Reflexion aus gutem Grunde entledigen. Diese reaktionäre Flucht in feste Herrschaftsverhältnisse gibt Sicherheit und wird von nicht wenigen
Zeitgenossen als Erleichterung des Daseins erfahren. Man kann sich dadurch einer unangenehmen Aufgabe, nämlich der Rechtfertigung des eigenen Handelns, entziehen. gehandelt wird auf Anweisung und
nach Vorgaben von sogenannten Autoritäten. Dies ist zugleich immer eine Flucht in die Unmündigkeit. Die Ausprägungen dieser reaktionären Flucht sind vielfältig und münden nicht selten in einem sehr
engen Heimatverständnis mitunter in der Selbstauslieferung an eine sektiererische Bewegung und in einigen Fällen sogar in terroristischen Orientierungen. Manchmal können diese Tendenzträger aber auch
vom rechten oder linken Rand der Volksparteien aufgefangen werden. Doch die Ränder der Volksparteien sind in dieser Hinsicht brüchig geworden. Deren integrative Funktion hat sich erheblich
abgeschwächt, und sie schwächt sich weiterhin ab. Das gibt durchaus Anlass zu ernster Sorge. Noch ernster wird die Sorge aber bei Betrachtung der zweiten in der politischen Diskussion sogar zunehmend
dominierenden Tendenz, die man insofern als die Negation des Ethischen bezeichnen kann, weil bei ihr das Fehlen jedweder ethischen Überlegung maßgeblich ist. Einige Beispiele aus dem
kommunalpolitischen Alltag mögen dies veranschaulichen. Da fordern Stadträte der beiden großen Volksparteien, dass im Mitteilungsblatt eines kommunalen Zweckverbandes Autoren nicht veröffentlichen
dürfen, wenn sie Mitglieder einer politischen Partei sind. Auf die Verletzung der Meinungsfreiheit und mithin des Artikels 5 des Grundgesetzes angesprochen, argumentieren die Stadträte, dieses
Publikationsverbot treffe ja alle Mitglieder politischer Parteien im Einzugsgebiet. Insofern sei Gleichbehandlung garantiert. Auch die Oberbürgermeisterin einer Großen Kreisstadt in Baden-Württemberg
schließt sich dieser Meinung an. In der Diskussion stellt sich dann heraus, dass die hier als Zensur-Befürworter Auftretenden keinesfalls prinzipielle Gegner von Meinungsfreiheit sind. Sie
argumentieren vielmehr mit einer Nützlichkeitserwägung. Wenn Mitglieder der in der Zweckverbandsversammlung vertretenen politischen Parteien im Mitteilungsblatt ihrer Meinung zu Angelegenheiten des
Zweckverbandes veröffentlichen, sei der Leser und Bürger mit einer unüberschaubaren Vielfalt im politischen Meinungsstreit konfrontiert, die er nicht mehr einordnen könne. Deshalb sei es nützlich,
hier Publikationsverbote auszusprechen. Die ethischen Konsequenzen dieses Publikationsverbotes bleiben unberücksichtigt, werden sogar ganz bewusst aus der Diskussion ausgeblendet. Ähnlich bei der
Forderung eines eher im rechten Spektrum agierenden Stadtrates, der sich dafür einsetzt, Eltern von in der Öffentlichkeit Alkohol trinkenden Kindern und Jugendlichen mit einem Fahrverbot zu belegen.
Ein anderer Kommunalpolitiker will Eltern derart sich verhaltender Kinder sogar an einen virtuellen Pranger im Internet stellen. Auch hier werden Nützlichkeitserwägungen angestellt. Und die
Argumentationslinie in diesem Fall verlief ungefähr so: Trinken Kinder und Jugendliche in der Öffentlichkeit Alkohol und verhalten sich infolge übermäßigen Alkoholgenusses sogar regelwidrig, haben
die Eltern ihrer Erziehungspflicht nicht genügt. Diese Pflichtverletzung muss geahndet werden, damit die Eltern bei ihren Kindern durchsetzen, dass diese keinen Alkohol mehr in der Öffentlichkeit
trinken. Deshalb muss eine Konsequenz angedroht werden, die ausreichend abschreckend ist. Denn nur ein hoher Abschreckungseffekt würde sich als nützlich erweisen. Als in der Diskussion darauf
verwiesen wird, man möge bedenken, dass durch eine solche – zudem unverhältnismäßige – Konsequenz die Würde der Eltern verletzt werde, wird dies zurückgewiesen. Hier gehe es nur darum, in der
Öffentlichkeit Alkohol trinkende Kinder und Jugendliche aus dem Stadtbild zu entfernen. Mit Würde habe das nichts zu tun. Immer wieder wird in unterschiedlichen Zusammenhängen die Einschränkung oder
Abschaffung von Bürgerrechten gefordert. Zumeist wird dabei dann utilitaristisch argumentiert. Wird dieser Argumentation dann entgegen gehalten, dass Nützlichkeitswerte doch nicht gegen die Würde des
Menschen ausgespielt werden dürfen, macht sich Ratlosigkeit breit. So etwas wie Würde habe doch in dieser Diskussion nichts zu suchen, so wird eingewandt. Mitunter wird diese unethische Einstellung
ins Prinzipielle gewendet: Würde sei als abstrakter Wert jenseits der gesellschaftlichen und politischen Diskussionen angesiedelt. Im politischen Bereich dagegen zählen etatistische oder ökonomische
Nützlichkeitserwägungen. Die ethische Diskussion wird im besseren Fall vorbewusst, im schlechteren Fall ganz bewusst ausgeblendet. In seltenen Fällen wird immerhin schon einmal damit argumentiert,
dass die angestellten Nützlichkeitserwägungen natürlich „schon irgendwie“ vor dem eigenen Gewissen zu verantworten seien. Dann wird für gewöhnlich nachgefragt, wie denn eigentlich so etwas wie ein
persönliches Gewissen gebildet wird. Sich angeblich als liberal gerierende Zeitgenossen, beschließen diese Diskussion mit dem Hinweis, dass sei Sache des Einzelnen. Aus konservativen Kreisen wird
dann gern auf das sogenannte Böckenförde-Paradoxon verwiesen. Der frühere Verfassungsrichter hatte nämlich darauf aufmerksam gemacht, dass der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen
lebe, die er selbst weder begründen noch schaffen könne. Immerhin ist dann zumindest ein Ansatzpunkt für die Diskussion der ethischen Dimension gegeben. Und diese ethische Diskussion geht von der
sittlichen Würde des Menschen aus und leitet von der Begründung der Freiheit des menschlichen Willens und damit auch des Gewissens ein Wertesystem ab. Immanuel Kant begründet auf dise Weise eine
liberale Ethik, derzufolge den Bürger- und Menschenrechten als individuelle Forderungen an die Gesellschaft und letztlich an den Staat die Menschenpflichten beizuordnen sind, die ein ebenso
universelles Prinzip bilden wie die Menschenrechte. Der Freiheit des Menschen ist in diesem Zusammenhang die Annahme der Verpflichtung insoweit zu verdanken, als sie die transzendentallogische
Bedingung der Möglichkeit für die Wahrnehmung von Pflicht ist. Pflichten wie Rechte, also Bürgerrechte und Bürgerpflichten sind bei Kant durch den kategorischen Imperativ begründet. Autoren wie Farah
Dustdar haben zu recht darauf hingewiesen, dass der politische Liberalismus Kantischer Prägung von der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zum Schutz der bürgerlichen Freiheiten ausgeht.
Erst der Rechtsstaat liefert den Rahmen, innerhalb dessen Bürgerrechte und Bürgerpflichten realisiert werden können. Deshalb ist eine Rückbesinnung auf Kant und die von ihm grundgelegte liberale
Ethik in unserer Zeit so wichtig. Sie zeigt deutlich, dass die Bindungslosigkeit einer turbokapitalistischen Raffgier genauso unethisch ist wie die Folgsamkeit einfordernde Bindung an unbegründete,
aber vorgegebene Werte. Wir müssen wieder einen Ansatzpunkt liberaler Ethik vom Konzept der sittlichen Würde her denken. Dabei kann Immanuel Kant mit seiner Entwicklung des kategorischen Imperativs
wichtige Impulse geben. Dabei wird deutlich, dass der wertgebundene Liberalismus eine schlüssige Programmatik zur Sicherung von Bürgerrechten und zur Begründung von Pflichten der Bürger leisten kann.
Diese liberale Programmatik ist während der vergangenen Jahre vielfach durch Nützlichkeitserwägungen überdeckt worden. Heute stehen wir vor den Scherben, die uns eine durch bloße
Nützlichkeitserwägungen dominierte Politik und eine durch eine utilitaristische Teleologie vorgegebene Wirtschaftsstrategie hinterlassen hat. Gleichzeitig wird die Sehnsucht vieler Menschen nach
verbindlichen Werten, die letztlich für klare Orientierung sorgen sollen, immer stärker. Die Politik muss solche Sehnsüchte bedienen. Deshalb machen sich schon die ersten Rattenfänger auf, um mit
ihrer Melodie tradierter Werte die Menschen einzufangen. Eine liberale Grundorientierung gebietet es, solche Werte auf ihre begründenden Konzepte hin zu befragen. Dabei müssen unbegründete und nicht
begründbare Werte kritisiert werden. Nur so kann die freiheitliche und demokratische Bürgergesellschaft gesichert und gegen freiheitsgefährdende Wertschablonen verteidigt werden.
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Carsten (Dienstag, 14 September 2010 10:08)
"Und diese ethische Diskussion geht von der sittlichen Würde des Menschen aus und leitet von der Begründung der Freiheit des menschlichen Willens und damit auch des Gewissens ein Wertesystem ab. Immanuel Kant begründet auf dise Weise eine liberale Ethik"
Wo soll Kant denn sowas geschieben haben? Kant begründet die Freiheit des menschlichen Willens ja gerade nicht und leitet dementsprechend auch weder aus einer Freiheitsbegründung noch aus dem Gewissen ein Wertesystem ab. Ebenso heikel bis ablehnenswert ist die Identifikation Kants mit dem politischen Liberalismus. Hier wird Kant für andere Ideen in Haftung genommen. Dann doch lieber Kant in Ruhe lassen.
Sabine (Dienstag, 14 September 2010 15:12)
zum Beispiel in der Metaphysik der Sitten. Klar begründet gerade Kant die Freiheit des menschlichen Willens,siehe Kritik der praktischen Vernunft.
erst lesen, dann kommentieren, Kollege
Michael (Mittwoch, 22 September 2010 17:34)
Kant könnte problemlos als Urvater des wertgebundenen Liberalismus gelten, allerdings wich dieser Liberalismus, wie Kant ihn formuliert hatte, einem empirischen, materialistischen und individualisierten Liberalismus, der sich auf die liberalen Konzeptionen Lockes zurückführen lässt. Kants Begründung der Freiheit lässt sich verkürzt und knapp zusammenfassen als Ruf nach individueller Selbstverpflichtung, Verantwortung und selbstbeschränkter Freiheit.
Er hat also doch was zum politischen Liberalismus geschrieben, gelle?